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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Erschöpfung. An die Atemnot, unter der er immer wieder litt. Ich musste ihn schlafen lassen, wenigstens ein paar Minuten, damit er weiterhin durchhielt.
    Besorgt musterte ich ihn. Die Penizillinspritze war ein Stück aus seiner Tasche gerutscht. Wenn er noch weiter zur Seite kippte, würde sie herausfallen und auf dem harten Boden zerschellen. Mit den Fingerspitzen zog ich die Injektion aus dem Stoff seines Kittels und stand da wie eine Medizinstudentin, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Spritze setzen musste und sich nicht traute. Ich tapste in die Küche, um sie dort abzulegen. Auf dem freigeräumten Tisch hatte Paul einen frischen Kittel, einen Mundschutz und Handschuhe ausgebreitet. Für mich. Falls ich Tessa noch einmal sehen wollte.
    Und verflucht, das wollte ich. Nicht, um mit ihr abzurechnen, und erst recht nicht, um über ihr Leben zu entscheiden. Nein, ich musste Klarheit darüber gewinnen, wer sie war. Ob sie die kleine hässliche alte Vettel mit dem Puppengesicht war, die in ihrer abartigen Gier mein Leben verdunkelt hatte, oder jene beruhigend schöne, sanfte Frau, in deren ausgebreitete Arme ich mich hatte fallen lassen wollen. Oder ein Wesen, das ich nie gesehen hatte? Konnte ich erst jetzt ihr wahres Gesicht erkennen?
    Mechanisch und ohne recht glauben zu können, was ich da tat, desinfizierte ich meine Hände und kleidete mich an: Kittel, Handschuhe, Mundschutz, dann, als wäre sie der letzte notwendige Teil dieser Ausrüstung, steckte ich die Spritze in meine Tasche. All das kam mir vertraut vor, als hätte ich es schon oft getan, als hätten diese Utensilien auf mich gewartet. Für einen Moment agierte ich nicht wie eine Patientin, sondern wie Pauls Kollegin, die ihn nun von seiner Schicht ablöste. Professionell und ruhig.
    Gänzlich unprofessionell jedoch war der unterdrückte Schrei, der mir entfuhr, als ich die Tür des Salons hinter mir geschlossen hatte und Tessa anschaute. Ich erkannte sie nicht wieder. Was vor mir lag, war weder ein lüsterner Dämon noch eine Verheißung. Paul hatte ihre Haare abgeschnitten, nein, geschoren. Natürlich, er hatte das tun müssen, allein aus hygienischen Gründen. Tessa ohne Haare … Die Kopfhaut sah nicht aus, als hätten ihre Wurzeln vor, neue Haare zu produzieren. Sie war komplett kahl, ohne Flaum, ohne Stoppeln, ein schneeweißer, glatter Schädel, unter dem blaue Adern schwach pulsierten.
    Tessas Augen waren geschlossen und tief in ihre braun umschatteten Höhlen gesunken. Mit seltsam abgespreizten Armen lag ihr abgemagerter Körper auf dem weißen Laken, von der Brust bis zu den Knien durch ein Tuch abgedeckt. Paul hatte sie an den Tropf gehängt, um ihr Flüssigkeit zuzuführen, doch dieser Körper wollte sterben. Das war es, was er mir unmissverständlich bedeuten wollte; sein Geruch sagte es mir und auch seine wächserne Haut und die dünnen Knochen, die sich durch das Tuch drückten, ein Leichentuch, keine Bettdecke. Ich tat ihm einen Gefallen, wenn ich die Spritze in meiner Tasche ruhen ließ, wenn ich ihm das gestattete, was er seit Hunderten von Jahren vergeblich versuchte.
    Doch wir Menschen bestanden nicht nur aus unserem Körper. Manchmal wollte der Geist leben, obwohl der Körper beschlossen hatte zu sterben. Wie bei mir. Ich wollte leben, leben mit allen Sinnen, ich wollte lange leben, uralt werden, ich wollte noch so viel sehen und entdecken und auskosten. Intensiver denn je. In diesem Moment, als ich sie betrachtete, wollte ich mich sogar vermehren, nicht nur ein Kind bekommen, sondern mindestens drei, ach nein, fünf! Dazu ein kleiner Zoo im Garten, um den ich mich kümmern konnte – überhaupt, ein Garten, Pflanzen und Sträucher. Gemüse und Obst ziehen und ernten. Wie Mama.
    Vielleicht träumte Tessas Geist davon auch. Genau in diesem Augenblick träumte er von der Zukunft, sah nicht ein, dass jetzt alles zu Ende sein sollte. Andererseits: Was sollte er in dieser Welt? Diese Welt würde ihn überfordern. Tessa hatte keine Erinnerungen an ihr Dasein als Mahr; für sie hatte ihr räuberisches Dasein als Dämon niemals existiert. All die Jahre, in denen sie Träume und Erinnerungen stahl, waren wie fortgewischt.
    Paul hatte sie befragt, mithilfe von schriftlichen Übersetzungen, die Gianna ihm notiert hatte. Tessa wusste nichts. Sie hatte etwas von einem Fischmarkt geredet und Blut, zumindest hatte Gianna das so interpretiert (falls Paul es richtig verstanden und wiedergegeben hatte); darauf konnte niemand von uns sich einen Reim

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