Dornenkuss
auch ihm der Geduldsfaden. Colin stieß das Törchen auf, hinter dem er die ganze Zeit gestanden hatte. Mit einer harschen Bewegung trat auf mich zu, fasste mich aber nicht an, sondern zeigte an mir vorbei auf die Eingangstür, ein erbostes Herrchen, das seinem ungezogenen Hund die Leviten las.
»Geh zurück ins Haus, sofort!«, brüllte er. Ich hatte ihn noch nie so brüllen gehört, er brüllte nicht wie ein Dämon, sondern ganz wie ein Menschenmann, gut wahrnehmbar für alle und ohne jegliche telepathische Finessen. Mehr als bei all unseren Gesprächen zuvor wurde mir sein schottischer Akzent bewusst. Ich wollte an ihm vorbei durch das Tor schlüpfen, stolperte aber über meine eigenen Füße und fiel beinahe auf die Knie. Hinter mir ertönten Schritte.
»Ellie, was tust du da draußen? Komm wieder rein, um Himmels willen, willst du denn die ganze Straße anstecken?«
Nun waren sie zu zweit. Zu stark, zu unerbittlich. Ich gab klein bei. Vorläufig. Paul nahm mich behandschuht am Arm und führte mich ins Haus, wo er mich umgehend nach oben schickte. Ein fremder Arzt, nicht mein Bruder. Von Colin kein Wort mehr.
»Tut mir leid, ich wollte ihn sehen … ich hab ihn vermisst …«
»Schlaf jetzt, Ellie. Wir brauchen alle unseren Schlaf.«
Ich gehorchte ihm. Fürs Erste hatte ich verloren. Dabei hatte ich doch nur ein Versprechen erzwingen wollen, ein Versprechen, das mich beruhigen konnte und der Situation ein wenig ihre Aussichtslosigkeit nehmen würde. Ich wusste nicht, was daran so verwerflich war. Es wäre mir leichter gefallen, hier zu liegen und zu wissen, dass ich dem Tod und der Krankheit entrinnen konnte, wenn sie sich näherten. Das war doch nur verständlich! Jeder würde ein solches Versprechen haben wollen, wenn er es bekommen konnte. Paul hatte mich sogar erst darauf gebracht; ich selbst hatte gar nicht daran gedacht, nie zuvor hatte ich daran gedacht.
Colin hatte regelrecht hasserfüllt auf mich gewirkt. Er würde mich nicht lieben, wenn ich ein Mahr wäre. Ich aber liebte ihn als Dämon … Wurde hier mit zweierlei Maß gemessen? Wenn ich eines verabscheute, dann das. Ungerechtigkeit. Ja, es war ungerecht, ungerecht und gemein. Es war menschenverachtend.
Voller Wut und Demütigung wälzte ich mich auf der knarzenden Luftmatratze hin und her, bis ich mich dem Schlaf hingab, weil ich irgendwann hoffte, er würde mir einen schönen Traum schenken, der mir neue Kraft und Hoffnung verlieh.
Doch die schönen Träume blieben aus. Grischa-Träume zählte ich nicht mehr als schöne Träume, auch in dieser Situation nicht. Sie blieben zu kurz und zu wenig greifbar, um mich darin zu vergessen. Nicht einmal er konnte mir Trost verschaffen. Zäh tröpfelten die Stunden dahin; Morgen, Vormittag, Mittagshitze, Nachmittagshitze, Abend. Dann die unbegreiflich lange, stille Nacht. Immer wieder stand ich kurz davor, mich erneut aus dem Haus zu schleichen und dieses Mal auch den Garten zu verlassen, um nach einem Mahr zu suchen, der sich alles von mir nehmen wollte, ausgehungert und gierig, und mich damit vor dem Tod rettete, doch ausgerechnet die Gedanken an Paul, der mich erst auf diese Idee gebracht hatte, hielten mich jedes Mal in letzter Sekunde davon ab.
»Willst du die ganze Straße anstecken?«, hatte er mich gefragt. Ich hatte es schon in der Schule gehasst, wenn meine Klassenkameraden hustend und schniefend zum Unterricht erschienen und alle anderen großzügig mit Grippeviren versorgten, ich hatte es als verantwortungslos und dumm empfunden. Wie verantwortungslos und dumm war es, gespickt mit Pest- und Choleraviren von einem Dorf zum anderen zu ziehen, um völlig planlos nach einem Mahr zu suchen? Hatte ich wirklich das Recht, so etwas zu tun?
Noch war es außerdem nicht so weit. Meine Lymphknoten waren auch an den folgenden zwei Tagen geschwollen und ich glaubte, leichtes Fieber zu haben. Doch weitere Symptome blieben aus. Inkubationszeit drei bis acht Tage. Mein Körper wehrte sich. Ich wusste nicht, ob er gewinnen konnte, doch er kämpfte. Ich betete um einen Sieg, betete darum, dass Colin es sich anders überlegen würde, wenn ich verlor.
In der dritten Nacht war es überraschenderweise niemand anderes als Paul, der mich aus unserem Gefängnis befreite. Ohne auch nur ein Wort zu verlieren, rüttelte er sanft an meiner Schulter (was nicht nötig war, ich hatte wach dagelegen und auf die Geräusche von der Straße gelauscht) und bedeutete mir, mit ihm zu kommen.
Auf Zehenspitzen nahmen wir die
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