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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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machen. Vielleicht war es auf einem Fischmarkt geschehen und es waren ihre letzten Erinnerungen an die Metamorphose. Fische und Blut. Blut floss nämlich, wenn Mahre die Menschen verwandelten. Oder es war am Meer geschehen, unter Wasser womöglich, und deshalb fürchtete sie es …
    Meine Gedanken drehten sich im Kreis, ohne dass ich zu einer Lösung gelangen konnte. Tessas Atem wurde zusehends flacher. Manchmal vergingen Sekunden, bevor ihre Brust sich wieder hob und ich ein kaum hörbares, feuchtes Rasseln wahrnahm, mehr vermochten ihre Lungen nicht mehr für sie zu tun.
    Auch ich konnte nichts für sie tun. Entsprach es denn dem hippokratischen Eid, einen dummen, einfältigen und gierigen Menschen aus dem Mittelalter der modernen Welt auszusetzen? Ich konnte mir sogar vorstellen, dass sie, falls sie genesen sollte, durch die Straßen lief und wieder nach jemandem Ausschau hielt, der ihr ewiges Leben schenkte. Ob sie sich dann an Colin erinnerte? Ihn erneut heimzusuchen begann?
    Oder war sie zeitlebens an uns gebunden, weil wir nicht wagten, sie der Öffentlichkeit preiszugeben, um uns nicht zu verraten? Eine Art Familienmitglied, das bei jedem Handgriff auf unsere Hilfe angewiesen war und auf das wir achtgeben mussten wie auf ein kleines Kind? Wollte ich das? Nein, weder ich noch sonst jemand von uns wollte das.
    Wieder setzte ihr Atem aus. Ohne es entschieden zu haben oder gar zu wollen, legte ich prüfend meine Hand auf ihre Stirn. Sie glühte. Sie musste schon im Delirium sein … Ein leises Seufzen befreite sich aus ihrer Kehle. Ich zuckte zurück, doch sie schlug ihre Augen nicht auf. Nichtsdestotrotz hatte sie mich wahrgenommen.
    »Mist«, flüsterte ich. »Verdammter Mist …« Sie wusste, dass ich hier war! Jemand stand an ihrem Bett und dachte über sie nach. Sie hoffte, dass ich ihr half, ging vielleicht sogar davon aus, weil Paul seit Tagen nichts anderes tat.
    Folge deinem Herzen, hatte Mama gesagt, als sie mich zum Abschied in den Arm genommen hatte. Ja, ich musste auf mein Herz hören, auch wenn niemand mich darum gebeten hatte zu entscheiden, was ich nun entscheiden würde. Ich war die Einzige, die es tun konnte. Wenn die Pest bei mir ausbräche und ich würde im Fieberwahn fühlen, dass jemand neben mir stand und mich berührte, würde ich hoffen und wünschen, dass er mir half. Wie schrecklich war es gewesen, als Mama das in meinem Traum nicht getan und mir stattdessen eine Pistole an die Schläfe gehalten hatte … und abgedrückt hatte …
    Routiniert trennte ich ein Stückchen Mull von der Rolle neben dem Bett ab, schob das Tuch ein Stück zur Seite, besprühte Tessas Oberschenkel mit Alkohol und tupfte ihn trocken. Dann setzte ich die Spritze an und injizierte ihr jene Lösung, die möglicherweise mein eigenes Leben hätte retten können. Als ich fertig war, begann ich von Kopf bis Fuß zu zittern, nur für wenige Sekunden, aber so gewaltvoll, dass ich beinahe den Tropf umgeworfen hätte.
    Ich hätte gehen können, mehr war nicht zu tun, ich hätte mich sofort auf mein Bett legen und anfangen können zu bereuen, was ich entschieden hatte. Doch ich blieb stehen und schaute sie an, schaute zu, wie ihr Gesicht sich ein wenig zu entspannen begann, immer noch stupide und hässlich, aber zufriedener als zuvor. Es kam mir vor, als würden sich Geist und Körper einander annähern, verhandeln, sich umkreisen und dann vereinen. Ihre Lippen zuckten.
    Ich beugte mich vor, obwohl ich mich vor ihr ekelte.
    »Ja?«, fragte ich flüsternd. »Was ist?«
    Hatte sie mir doch noch etwas zu sagen? Eine Information über Colin oder über meinen Vater? Eine letzte Botschaft, die mehr wert war als eine Penizillinspritze? Irgendetwas, was mich belohnen würde?
    Doch es war nur ein einziges Wort, ein Wort, das ich ohne Mühe übersetzen konnte, weil es das erste gewesen war, das ich auf Italienisch gelernt hatte und selbst im übelsten Akzent und in tiefster Krankheit verstand.
    »Danke.«
    Danke wofür? Danke, dass ich ihr das Medikament gegeben hatte? Dass ich bei ihr war? Dass ich sie berührt hatte? Ihr zuhören wollte? Danke, dass wir den Dämon in ihr getötet hatten?
    Oder danke, dass sie sterben durfte? Denn auf einmal wusste ich, dass es nutzlos gewesen war. Dieses Penizillin würde nicht wirken. Sie würde nicht mehr gesund werden. Wir hatten ihr nicht das Leben, sondern Sterblichkeit geschenkt.
    Rückwärts stolperte ich aus dem Raum, die leere Spritze in der Hand, schlug die Tür zu und setzte mich neben

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