Dornenkuss
Haustür, und selbst wenn du sie findest, bedeutet das nicht, dass sie Informationen über deinen Vater besitzen oder sie gar preisgeben. Ellie … ich weiß, es geht mich nichts an, aber mir wäre wohler, wenn du es in Zukunft bleiben lassen würdest, allein in ausgestorbenen Dörfern herumzuspazieren.« Zum Glück klang er nicht wie ein Oberlehrer, sondern lediglich milde besorgt, sonst hätte ich meine Krallen ausgefahren.
»Aber ich muss doch irgendetwas tun!«, wehrte ich mich dennoch.
Angelo schwieg, die Hände in den hinteren Hosentaschen, den Blick gesenkt, was mich betrübte, als hätte mir jemand etwas Wertvolles aus den Armen gerissen. Er schien darüber nachzudenken, wie er das, was er mir nun sagen wollte, in Watte packen und ein Schleifchen darum binden sollte, aber das würde ihm nicht gelingen. Da gab es nichts zu verniedlichen. Meine Suche war sinnlos und gefährlich dazu. Ich würde hier nicht weiterkommen. Offenbar gab es viel weniger Mahre, als ich angenommen hatte.
»Und die Liste? Was ist mit der Liste?«, zog ich meinen allerletzten Joker. Angelo hob erstaunt seinen blonden Schopf.
»Liste?« Nun war er derjenige, dessen Augen sich vor Verwunderung weiteten.
»Die Liste mit den Halbblütern«, erklärte ich ungeduldig. »Wer hat Zugriff auf diese Liste?«
»Ellie, ich … ich weiß nichts von einer Liste. Eine schriftliche Liste? Ein Blatt Papier mit Namen von Halbblütern?«
»Nein, eine Liste, die mündlich weitergegeben wird von Mahr zu Mahr. Kollektives Wissen eben.«
»Also, es stimmt schon, dass die Halbblüter manchen Mahren ein Dorn im Auge sind und sie nicht gerne gesehen werden, aber von einer Liste weiß ich nichts. Meistens erledigt sich das mit den Halbblütern doch sowieso von selbst …« Angelo stockte, als habe er zu viel gesagt.
»Was meinst du damit?«
»Nichts. Nicht so wichtig«, wehrte er ab. Hatte er eben andeuten wollen, dass Halbblüter im Gegensatz zu den Mahren irgendwann starben – oder dass sie gelyncht wurden? »Ellie, ich mache dir einen Vorschlag: In Longobucco gibt es die beste Pizza weit und breit. Hast du Hunger?«
Verdattert nickte ich. Ja, ich hatte Hunger, großen sogar, schließlich hatte ich das Mittagessen ausfallen lassen. Jetzt konnte ich eine Frustmahlzeit gut gebrauchen und Pizza eignete sich hervorragend dafür.
»Dann nehmen wir meinen Wagen und ich organisiere dir in Longobucco einen Abschleppdienst. Wahrscheinlich ist ein Kühlschlauch geplatzt, das lässt sich schnell reparieren.«
»Okay, einverstanden.« Das war sogar besser, als ich dachte. Es gab mir Zeit, weitere Fragen zu stellen.
Doch vorerst wollte ich nicht mehr reden. Stumm liefen wir aus dem Dorf hinaus und über die Schotterpiste zur Landstraße, wo mir Angelos Wagen schon von Weitem entgegenleuchtete – ein schnittiger alter Alfa Romeo. Rot. Und offen. Ja, das Dach des Volvos hatte ich hier schon einige Male verflucht. Ich schnappte mir meine Sandalen von seinem Beifahrersitz und die Flasche mit lauwarmem Wasser, die ich im Fußraum gelagert hatte, und stieg zu Angelo in den Wagen. Er klaubte gerade einen Packen Noten und ein Metronom vom Lederpolster, um mir Platz zu schaffen, und verstaute sie im Handschuhfach, wo ich außer CDs nur ein paar Eisbonbons erspähen konnte. Zu gerne hätte ich dieses Auto von vorne bis hinten durchwühlt.
Grischas silbergrüner Citroën war ein schickes Teil gewesen, aber das hier stach ihn aus. Ich konnte kaum abwarten, dass Angelo den Motor anließ und losfuhr. Als er es endlich tat – er hatte noch den Kühler des Volvos inspiziert –, reckte ich alarmiert den Kopf. Der Motor tuckerte sonor und feurig, doch ich war mir sicher, Kirchengeläut gehört zu haben. Ja, das Dröhnen von Glocken schallte durch die Luft, aber außer dem Dorf war keine Ortschaft in der Nähe und ich konnte das Lärmen der Glocken so deutlich hören, als würde die Kirche direkt hinter uns stehen. Dazu Vogelgezwitscher und das Summen einer Biene … Wo war diese Biene? Argwöhnisch drehte ich mich um.
Angelo lachte leise. »Alles in Ordnung, das ist Musik.« Er deutete auf den CD-Player, der von alleine gestartet war, als er den Motor angeworfen hatte. Beruhigt atmete ich aus, doch schon beim nächsten Herzschlag tat mir mein ganzer Körper weh. Kirchengeläut, alt und mächtig. Und dann diese einprägsame Tonfolge, drei Klavierakkorde, jeweils zweimal angespielt. Immer wieder hintereinander. Tammtamm, tammtamm, tammtamm. Ich hatte diesen Song niemals
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