Dornenkuss
aufgemacht hatten, den Nektar der neu erblühenden Blumen zu trinken.
Das Schauspiel dauerte nur wenige Minuten, doch es war wie ein langer, großartig inszenierter Film, den man im Zeitraffer vorführte. Dann flaute der Regen ab, die Erde fing zu dampfen an und die Frösche verschwanden, als wären sie nie da gewesen.
»Tja. Das ist auch nach 165 Jahren immer noch jedes Mal faszinierend«, sagte Angelo, erfüllt von verhaltener Ehrfurcht. »Aber es geht viel zu schnell vorüber.«
Mit einem Mal wallte Neid in mir auf, gelb und giftig. Nie war es mir kräftezehrender vorgekommen, all das, was mir an Gutem widerfuhr, so intensiv zu erleben wie jetzt, damit ich es auch ja nicht vergaß, weil es mir wahrscheinlich kein zweites Mal passieren würde. Irgendwann, vielleicht schon bald, würde ich gehen müssen und die Schönheiten der Welt wären für meine Augen nicht mehr zugänglich. Es gab doch noch so viel zu entdecken und zu erleben … Zugleich musste ich an Colins Wunsch denken zu sterben. Ich empfand ihn nicht mehr als Anschlag auf mich selbst und auf unsere Liebe, sondern als pure Blasphemie.
»Sie sind weg«, sagte ich, eingekerkert in einem Gefühl absoluter Trostlosigkeit.
»Sie kommen zurück, spätestens nächstes Jahr.«
»Und es wird nie langweilig, oder?« Ich hoffte zu hören, dass es langweilig wurde, doch Angelo schüttelte bedächtig den Kopf.
»Nein, für mich wird es das nicht. Aber es gibt sicherlich Menschen, die es schon beim ersten Mal öde finden.«
Ja, die mochte es geben. Ich selbst betrachtete die Natur als eine Zauberquelle, die mich immer wieder mit neuen Spielereien und Raffinessen ergötzte, solange ich da war und lebte und mir die Zeit nahm, ihr zu begegnen. Doch wenn ich nicht mehr lebte, würde sie mir verschlossen bleiben. Für immer. Bedrückt krabbelte ich von der Leiter und suchte Schutz unter dem Terrassendach, wo ich mich neben das Piano auf eine der großen, kissenbedeckten Liegeflächen setzte. Angelo machte sich erst im Haus zu schaffen, bevor er sich zu mir gesellte, über seiner Schulter sein Garfield-Handtuch, das er mir zum Trocknen zuwarf, und in den Händen zwei weiße, dickwandige Tässchen mit frisch gebrühtem Espresso. Sein Duft belebte mich augenblicklich.
»Was geht eigentlich gerade in dir vor?«, fragte Angelo einfühlsam, nachdem ich meine Tasse ausgetrunken und abgesetzt hatte.
»Viel zu viel.« Ich strich meine feuchten Haare aus dem Gesicht und flocht sie locker im Nacken; für eine Weile würde das halten. Mein Bikini war bereits wieder trocken. Trotzdem schlang ich mir das Handtuch um den Bauch, es war so schön weich. »Wie …« Ich unterbrach mich. War es unhöflich, das zu fragen?
»Keine neuen Verdauungsdiskussionen, bitte«, bemerkte Angelo lächelnd und auch ich musste lächeln.
»Nein, schwieriger.«
»Noch schwieriger?« Er knuffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite, um mir zu zeigen, dass er mir meine bohrende Neugierde nicht mehr übel nahm. Ich musste an die zufälligen Momente denken, in denen Grischa mich angerempelt hatte, unabsichtlich natürlich, im Gedränge vor oder nach der Pause. Trotzdem hatte ich anschließend meine Jacke nicht mehr ausziehen wollen. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, mich zu necken oder bewusst anzurempeln. Er hatte mich ja gar nicht gesehen.
»Nicht nur schwieriger, sondern auch persönlicher.«
»Ganz ehrlich, Ellie, ich glaube nicht, dass das möglich ist. Aber du kannst es gerne versuchen«, witzelte Angelo.
»Gut, ich versuche es. Wie bist du verwandelt worden? Und war es nicht furchtbar? Wer war es, weißt du das? Und ist es ein Zufall, dass du zwanzig warst? Colin war nämlich auch zwanzig und …« Angelos erhobene Hand bremste mich. Okay, zu viele Fragen auf einmal, mein alter Fehler. Wenn ich anfing, konnte ich nicht mehr damit aufhören. Ich bombardierte meine Mitmenschen. Immerhin wirkte Angelo nicht so, als würden meine Fragen zu weit gehen. Er lehnte sich wie ich zurück, schaute aber nicht in die Ferne, sondern blieb mit seinen Augen bei mir.
»Es war gar nicht furchtbar. Keine Schmerzen, keine Angst, sondern die Gewissheit, dass etwas Neues beginnt, das mir uneingeschränkte Freiheit schenkt. Ich wollte es ja. Und nein, es ist wohl kein Zufall, dass viele Menschen im Alter von zwanzig Jahren verwandelt werden. Es ist eine besondere Lebensphase – meistens steht man in seiner Blüte und der Ernst des Lebens hat noch nicht begonnen, zumindest ist es heute so. Trotzdem bekommt
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