Dornenkuss
das Dasein langsam Verantwortung und feste Strukturen; es zeichnet sich ab, was später Alltag sein wird. Die Leute studieren oder haben ihre Ausbildung abgeschlossen, steigen ins Berufsleben ein. Von da an wird es Schritt für Schritt immer komplizierter und beschwerlicher. So wäre es jedenfalls für mich gewesen.«
»Also hast du dich gedrückt. Du hast es gewollt, ist das wahr?«, fragte ich nach, weil ich mir nicht sicher war, ob ich ihn richtig verstanden habe.
»Ja. Ja, und von mir aus habe ich mich gedrückt, wenn du das so bezeichnen willst. Du hast nicht zufällig preußische Vorfahren, oder?«
Mein ertapptes Schweigen war Antwort genug. Er hatte ins Schwarze getroffen. Papas Vorfahren stammten aus Pommern, früher preußisches Hoheitsgebiet, und die preußisch-protestantische Geisteshaltung frei nach dem Motto »Was nicht tötet, macht hart, aber bitte immer in geometrischen Mustern« hatte auch auf Papa abgefärbt. Kein Utensil auf seinem Schreibtisch, das nicht seinen festen Platz hatte. Und er hatte uns immer eingebläut, unsere Pflichten zu erfüllen, pünktlich und ordentlich und mit angemessenem Ernst – etwas, was ganz und gar nicht zu seiner fast heldenhaften Abenteuerlust passte.
»Ich stamme aus einer anderen Zeit als du, Ellie. Neunzehntes Jahrhundert, römische Oberschicht. Eine wohlhabende Familie, in der die Karrieren der Kinder vorbestimmt waren. Ja, sie haben mir Klavierunterricht ermöglicht, schließlich sollten die schönen Künste nicht zu kurz kommen. Aber es stand außer Frage, dass ich eine andere berufliche Laufbahn einschlagen würde – nämlich die, die allen Söhnen vorbehalten war: Militär, Studium, juristische Karriere. Meine Eltern waren gut zu mir, wenig Schläge, viele Privilegien, wir mussten nie hungern, bekamen eine hervorragende Ausbildung. Ich will mich nicht beklagen! Aber ich wollte nicht zum Militär und ich wollte nicht in den Krieg. Genauso wenig wollte ich meine Eltern enttäuschen, indem ich mich diesem Weg verweigerte.«
»Das verstehe ich nicht …« Ich hatte mit Spannung zugehört, doch die Pointe verwirrte mich. »Wenn du dich deshalb hast verwandeln lassen, dann hast du dich diesem Weg doch verweigert.«
»Nein, habe ich nicht. Ich bin zum Militär gegangen, musste in den Krieg ziehen …« Angelos Gesicht verfinsterte sich. Nun war er es, der gegen schlechte Erinnerungen anzukämpfen versuchte. »Und bin gefallen. Offiziell.«
»Offiziell. Du hast dich verwandeln lassen, weil du schwer verletzt warst und dachtest, du müsstest sterben? War es das?«
»Nein. Ich bin nur angeschossen worden, nicht lebensbedrohlich, aber abseits der Truppe, und da lag ich nun und wusste nicht, was geschehen würde, und sehnte mich so sehr nach einem anderen, freieren Leben. Ich hasste das Militär, dieses blinde Unterordnen und Nachplappern und die Notwendigkeit, auf völlig unbekannte Menschen zu schießen, nur weil es dir jemand befahl, dem du nicht einmal den Dreck unter dem Fingernagel wert warst. Und dann war da noch die Musik … Weißt du, was mich als Kind immer am meisten deprimiert hat und als Jugendlicher erst recht?«
Ich schüttelte den Kopf – nicht, weil ich es nicht wusste, sondern weil ich mir Angelo nicht im Gefecht vorstellen konnte, in Militäruniform und schweren Stiefeln und dem Gewehr in der Hand, bereit, auf andere zu zielen und sie abzuknallen.
»Dass ich nie die Zeit haben würde, all die Musik zu hören, zu spielen und zu entdecken, die mir die Welt bot. Damals gab es noch keine MP3-Sticks, auf denen du Hunderte von Songs und Stücken abspeichern konntest. Das Grammofon wurde nur angeworfen, wenn bei uns im Haus ein Ball oder ein militärischer Empfang stattfand. Mein Vater war der Meinung, dass Musik die Sinne vernebelt. Ich wusste, dass es überall wunderschöne Musik gab und immer geben würde, aber ich würde irgendwann sterben und hätte nur einen Bruchteil von ihr hören und spielen dürfen. Selbst wenn ich eine Laufbahn als Pianist hätte einschlagen dürfen – die Zeit hätte niemals ausgereicht. Kein Menschenleben kann dafür reichen, selbst wenn man jede Minute der Musik widmen würde.«
»Und der Mahr hatte diesen Wunsch gespürt, oder?«
Angelo sah mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich wagte kaum zu atmen, weil ich fürchtete, es würde den Ausdruck in seinem Gesicht verändern. Ich wollte noch ein paar Sekunden darin eintauchen.
»Ja. Ja, sie hat ihn gespürt und mir gegeben, wonach
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