Dornenkuss
ich mich unbewusst sehnte. Ich fand es aufregend und ich wusste, dass mir etwas passierte, was mein Dasein radikal verändern würde, und so habe ich mich nicht dagegen gesperrt, weil mir alles besser erschien, als weiter durch den Dreck zu robben und zu morden.«
»Es war also eine Sie?«
Angelo zuckte mit den Schultern. »Das ist wohl oft so. Eine Sie verwandelt einen Er. Scheint spannender zu sein. Ich weiß es nicht, ich habe noch nie einen Menschen verwandelt und habe es auch nicht vor.«
»Warum nicht?« Ich zwang mich, Luft zu holen. Selten waren die Trennwände zwischen der Welt der Mahre und meiner so dünn gewesen. Ich wollte alles über sie erfahren.
»Ich habe die Richtige noch nicht gefunden«, gestand Angelo nach einer besonnenen Pause. »Ich möchte, dass es freiwillig geschieht, wie bei mir. Alles andere ist Mist.«
Alles andere ist Mist. Ich musste grinsen. Während Angelo von früher erzählt hatte, hatte er älter auf mich gewirkt als bei unseren bisherigen Begegnungen – reifer und erfahrener. Jetzt hatte er seinen Schwerenötercharme wiedergewonnen. Ja, alles andere war Mist. Sein Lächeln kehrte in sein Gesicht zurück, als er mein Schmunzeln bemerkte.
»Jetzt hast du mir aber immer noch nicht verraten, was in dir vorgeht, Ellie«, erinnerte er mich.
»Hab ich nicht?«, fragte ich unschuldig. »Hab ich wohl.«
»Nein, du hast Fragen gestellt, aber von dir hast du nichts erzählt. Warum warst du vorhin auf einmal so traurig?«
»Weil … ach … schwer zu erklären«, druckste ich herum. Doch dann entschied ich mich, es auszusprechen, wie es war. Vielleicht half es ja. »Colin hält nicht viel vom ewigen Leben. Er würde gerne sterben.«
»Wie bitte?« Angelo beugte sich ungläubig vor, als habe er sich verhört. »Machst du Witze?«
»Nein. Nein, es ist so. Er möchte, dass es irgendwann ein Ende hat.« Weiter wollte ich meine Erklärungen nicht fortführen; der Rest ging Angelo nichts an und vor allem wollte ich nicht schon wieder darüber nachdenken und schlussendlich scheitern. Viel zu spät fiel mir ein, was ich eben womöglich angerichtet hatte. Wenn Angelo wusste, dass Colin sterben wollte, dann …
»Du bringst ihn jetzt aber nicht um, oder?« Ich wollte aufspringen und mich drohend aufbauen, doch eine lähmende Schwäche legte sich über meine Beine. »Angelo, bitte, töte ihn nicht …«
»Oh Mann, Ellie. Für wen hältst du mich eigentlich? Ich habe kein Interesse daran, ihm etwas zu tun. Warum sollte ich das denn machen?«
»Weiß nicht«, nuschelte ich.
»Selbst wenn, ich mag die Ewigkeit und setze sie bestimmt nicht aufs Spiel. Gegen Colin hätte ich niemals eine Chance. Ich weiß, er ist ein bisschen jünger als ich, aber er ist ein Cambion!« Angelo atmete hörbar aus, nach wie vor überrascht von dem, was ich eben gesagt hatte. »Auch mit fünfzig Jahren Vorsprung würde ich das nicht wagen. Die macht er locker wett. Ich begreife nur nicht, warum er sterben will. Oder, Moment …« Angelo stockte. »Vielleicht begreife ich es doch«, sagte er wie zu sich selbst.
Ich befeuchtete mit der Zungenspitze meine Lippen. Bleib ruhig, Ellie, redete ich mir zu. Ruhig atmen. Es ist gut gegangen. Du hast ihn nicht verraten. Und wenn, wäre er stärker als Angelo.
»Er ist halt schon lange auf der Welt«, versuchte ich seine Beweggründe zu erklären, ohne zu viel preiszugeben. Tja, so lange nun auch wieder nicht. Nicht so lange wie Angelo. »Es ist auch für mich nicht erstrebenswert, ewig zu leben.« Warum fühlte es sich dann so an, als würde ich flunkern?
»Ja, ich weiß, das ist so eine menschliche Grundhaltung. Durchaus verständlich. Wir können die Unsterblichkeit nicht haben, also wollen wir sie nicht. Wenn man altert, ist es auch keine schöne Sache, das gebe ich zu.«
»Wieso denn das? Das Alter ist doch etwas Positives, man gewinnt an Erfahrung und Reife und … äh … ja.« Ups. Ich hatte nicht geahnt, dass meine Erörterung des menschlichen Alterns bereits nach diesen zwei Argumenten den Bach hinuntergehen würde. Note sechs, setzen.
»Und was noch? Krampfadern, Rheuma, Hämorriden, Falten, Schlafstörungen, Verstopfung, Impotenz …«
»Ist ja gut, hör auf, ich hab es verstanden!«, wehrte ich ab. »Aber das Alter besteht doch nicht nur aus Krankheiten!«
»Ich finde deine Haltung zu diesem Thema nobel und du hast ja auch recht, es macht Sinn, Erfahrungen zu sammeln, sich weiterzubilden und Reife zu erlangen. Nichts ist schwerer zu ertragen als naive,
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