Dornenkuss
unreife Gören. Ich meine nicht dich damit, du bist keine Göre!«, setzte Angelo hinterher, da ich ihn streng anfunkelte. »Und naiv schon gar nicht. Aber all das, was ich eben aufgezählt habe, kann ich ja tun. Ich bin gebildeter als die meisten Männer meines Alters, ich habe schon viel erlebt und gesehen. Ich würde mich nicht als weise bezeichnen und reif bin ich wahrscheinlich auch nicht, aber vielleicht werde ich es mit den Jahren … Wie gesagt, Zeit habe ich.«
Hm. Das Altern war eine schreckliche Sache? Tatsächlich? Wann würde ich anfangen zu altern? Geschah es vielleicht schon? Mit Argusaugen schielte ich auf meine Oberschenkel. Noch waren sie dellenfrei und schlank, aber hatte ich neulich im Umkleidekabinenspiegel bei H&M nicht dieses winzige dunkelrote Adergeflecht entdeckt, links neben meiner Kniekehle, nun dank der Bräune meiner Haut kaum mehr zu erkennen? Aber es war da und er würde auch nicht wieder verschwinden. Ein Besenreiser. Mein erster. Ein verbotenes Wort, fand ich. Es klang so hässlich, wie das aussah, was es bezeichnete.
»Das Alter ist Zerfall«, fuhr Angelo fort. »Der Geist bleibt mit etwas Glück wach und rege, aber der Körper zerfällt. Natürlich würde es keinen Spaß machen, unsterblich zu sein, wenn man dabei immer weiter altert. Das wäre ein Fluch. Alles wird von Jahr zu Jahr beschwerlicher und anstrengender, du fühlst dich nicht mehr wohl in deinem Körper, weil er nur noch schmerzt und dich plagt, doch du kannst ihm nicht entkommen …« Angelo schüttelte sich kurz. »Nein, das will niemand, da gebe ich dir recht. Aber das, was mich heute am Altern am meisten stört, ist, wozu es die Menschen antreibt. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre euer ganzes Dasein darauf ausgerichtet, dass ihr im Alter noch genug Geld habt. Aber wozu, frage ich mich? Schau dir allein die Werbung für Versicherungen an, eine einzige Angstmacherei, auf jedem Kanal im Minutentakt; ständig droht ihr euch mit Tod, Unfällen und Krankheit. Ihr besucht die Schule, geht arbeiten, knechtet euch jahrzehntelang – und wofür? Damit ihr etwas fürs Altersheim beiseitelegen konntet, wo ihr allein und vergessen vor euch hin vegetiert. Die Weisheit der Alten weiß doch niemand mehr zu schätzen. Früher, als es noch Großfamilien gab und alle zusammenhielten, sich umeinander kümmerten, sah das anders aus. Aber heute alt werden? Glaub mir, Ellie, es gibt Schöneres. Hab ich dir jetzt Angst eingejagt?«
»Hm. Keine Ahnung. Angst nicht, aber ich freu mich auch nicht drauf.« Ich hatte die ganze Sache noch nie aus Angelos Sicht betrachtet. Es war kaum etwas dagegen einzuwenden. »Trotzdem, es muss einen Sinn haben, dass wir alt werden und sterben …«
»Das hat es ja auch. Die meisten Menschen sind nicht für die Unsterblichkeit geboren, sie brauchen dieses Getriebensein, weil sie nicht mit sich im Reinen sind oder sich selbst schnell langweilig werden. Für sie wäre die Ewigkeit eine Strafe. Ich halte hier kein Plädoyer für die Unsterblichkeit, ich versuche nur zu erklären, warum ich mich dafür entschieden habe.«
Ja, Grischas oder Angelos und all die anderen Glücksritter ruhten in sich selbst und wurden sich nie langweilig. Wie sollte ausgerechnet ich das bezweifeln, wo es doch genau das war, was ich bei Grischa insgeheim bewundert hatte: seine lässige, unerschrockene Selbstverständlichkeit, mit der er dem Leben begegnete, das Glück fest in seinen Händen. Doch was bedeutete es im Gegenzug? Dass Colin nicht mit sich im Reinen war?
Das Gewitter hatte sich zurück aufs Meer verzogen, doch noch immer erhellte sich der Himmel ab und zu in einem mystischen, fernen Flackern, das Angelos Augen türkis vor mir aufleuchten ließ. Dieses Getriebensein, von dem er gesprochen hatte – das mochte ich auch nicht, ich hatte es nie gemocht. Die Erwartungen, die jetzt schon an mich gestellt wurden, belasteten mich enorm. Garantiert erwartete jedermann von mir ein wissenschaftliches Studium mit guten Zensuren, mindestens Biologie, aber im Idealfall Medizin. Ein Studium, das ich möglichst bald beginnen sollte, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, wieder im kalten Deutschland zu sein, in überheizten Vorlesungssälen zu sitzen, zwischen Menschen, mit denen mich nichts verband außer unserem gemeinsamen Ziel, das uns gleichzeitig zu Konkurrenten machte. Was mir da draußen blühte, war ein stetiges Streben nach Leistung, Geld und Anerkennung. Mit dem Ergebnis, dass ich gegen die Besenreiser und das
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