Dornenkuss
machte vorsichtshalber einen Schritt zurück.
»Entschuldige bitte, es war als Geste der Aufmunterung gedacht«, erwiderte ich reserviert. Fing er jetzt auch noch damit an, meine Nähe zu meiden? Was sollte das? »Dieses ganze Theater hier nervt mich langsam. Du wirst dich jedenfalls nicht töten lassen. Louis hat eine Kolik, das ist eine Erkrankung, kein Weltuntergang …«
»Elisabeth, verstehst du das nicht? Ich kann ohne Louis nicht leben, es geht nicht, er ist mein Ein und Alles, ohne ihn kann ich nicht sein!«
Ich wusste, dass Colin seinen Hengst liebte, aber nun übertrieb er. Wahrscheinlich (hoffentlich!) war es seine Wut auf Giannas Missgeschick, die ihn solche Dinge sagen ließ. Aber ich wollte mir diesen Schmus nicht länger anhören. Mit dem, was wir hier veranstalteten, war niemandem geholfen. Und getröstet werden wollte Colin anscheinend auch nicht.
Ich drehte mich um und ging wieder zurück in die Küche, wo Gianna blass am Tisch saß und an ihren Fingernägeln kaute.
»Hör mal, Gianna, kannst du runter zu Louis gehen und Colin wegschicken, sobald der Arzt kommt? Und dabei sein, wenn er behandelt wird? Geld findest du in meinem Nachttisch.«
»Welcher Arzt?«, fragte Gianna bleiern, doch ich war schon im Flur und streifte mir im Gehen meine Sandalen über. Meinen Schlüssel brauchte ich nicht, im Notfall konnte ich durch ein Fenster ins Haus steigen. Jetzt durfte keine Sekunde verschwendet werden. Ich rannte ohne eine einzige Pause die Straße entlang und an der Tankstelle vorbei hinauf zu den alten Olivenbäumen.
Bitte sei da, sei da …, dachte ich inständig, während ich das Tor aufstieß und auf den Pool zutrabte. Dem Himmel sei Dank, meine Bitten wurden erhört. Er saß am Klavier, neben sich eine angebissene Kinderschokolade und vor sich ein Notenblatt, auf dem er gerade mit einem Bleistift Notizen machte. Erstaunt blickte er zu mir hoch.
»Ellie, was – ist etwas passiert?« Trotz meiner Eile musste ich lächeln, weil ein winziges Stückchen Schokolade an seinem Mundwinkel klebte. Ich wischte es mit dem Knöchel meines kleinen Fingers weg.
»Ja. Louis hat eine Kolik und wir finden keinen Arzt. Ihm geht es wirklich schlecht. Kennst du vielleicht einen Tierarzt, der kommen kann?«
»Ein Tierarzt …« Angelo legte den Stift zur Seite und dachte mit gerunzelten Brauen nach. Selbst dabei wirkte seine Miene noch heiter. »Warte eine Minute. Ich bin gleich wieder da.«
Erleichtert, dass er sofort reagierte, anstatt tausend Fragen zu stellen, sank ich auf den Klavierhocker und lauschte dem Grollen des Gewitters, das sich nachmittags über dem Meer aufgebaut hatte, aber bis zum Abend nicht näher gerückt war. Jetzt kam es mir dunkler und mächtiger vor. Vielleicht war auch die schwüle Luft ein Grund für Louis’ Bauchschmerzen. Heute fiel es selbst mir schwer zu atmen, ohne dabei zu schwitzen. Eine solche Schwüle hatte ich hier bislang nicht erlebt. Dass es nachts über dem Meer wetterleuchtete, war nichts Außergewöhnliches. Doch nun schien sich das Unwetter direkt über uns zu befinden. Das Grollen dehnte sich sekundenlang in die Länge und wurde lauter und dann wieder leiser, ein Ungeheuer, das tief Luft holte.
Trotz des Donnerns hörte ich Angelo drinnen telefonieren; es war nun schon der zweite oder dritte Anruf – was sollte ich tun, wenn er niemanden fand, der sich dazu bequemte, an diesem heißen Abend zu arbeiten? Ich hielt mein verschwitztes Gesicht in den aufkommenden Wind. Er war noch immer warm, nicht kalt und feucht wie die Gewitterböen im Westerwald. Hoffentlich würde das Wetter so bleiben, wie es bisher war, hoffentlich …
»Er ist in zehn Minuten bei euch. Und ich werde wohl auf der Hochzeit seiner Tochter den Piano-Man mimen müssen.«
Ich fuhr hoch und streifte dabei mit dem Ellenbogen versehentlich die tiefen Tasten, eine Ermunterung für das Gewitter, es mir gleichzutun und erneut zu grummeln. Angelo grinste entspannt. »Na ja, macht nichts. Hatte ich sowieso vor. Jetzt tue ich es eben ohne Bezahlung.«
»Oh Mann, danke … vielen Dank …«
»Keine Ursache. Das ist das Gute an Italien. Irgendjemand kennt immer irgendjemanden, der das kann, was du brauchst, und fast jedes Mal wissen sie sofort, wie du den Gefallen einlösen kannst, den du ihnen damit schuldest. Es ist das Grundprinzip der Mafia, aber es hält die Menschen zusammen. Ich mag das. Es muss ja nicht gleich kriminell ausarten.«
Der Tierarzt konnte von mir aus eine voll geladene Kalaschnikow
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