Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
Gianna hatte gesagt, ich würde einen manchmal total irre anschauen. Merci beaucoup.
    Angelos Hände lagen auf den Tasten, als wolle er jeden Moment zu spielen anfangen, aber er tat es nicht.
    »Ich muss grad an etwas denken …«, murmelte er. »Kennst du die Nocturne Nr. 20 von Chopin?«
    »Ich hör nicht viel klassische Musik«, gab ich unumwunden zu. »Meistens langweilt sie mich.«
    »Das geschieht, wenn man sie zu schnell konsumiert. Und genau das ist der springende Punkt: All die Jahrzehnte habe ich immer wieder an diesem Stück gefeilt und geübt und jedes Mal befand ich mich in einer anderen Phase, in einer anderen Verfassung und Reife. Nach und nach wuchs es, zeigte mir neue Facetten und Stimmungen. Es lebt auf, treibt immer wieder frische Blüten … und bleibt doch vertraut.«
    »Spiel es mir doch mal vor.«
    Angelo zog die Hände zurück. »Ich – nein, lieber nicht.«
    »Warum nicht? Stell dich nicht so an, du spielst in der Pianobar vor unzähligen Zuhörern, du müsstest das doch locker können.«
    »Ja, aber es ist was anderes, vor vielen Fremden zu spielen als vor einem lieb gewonnenen Menschen.«
    »Angelo …« Ich feixte ihn mahnend an. »Du willst mir ja wohl nicht weismachen, dass du in deinem Musentempel noch nie einer Frau auf dem Klavier vorgespielt hast. Dafür steht es hier doch herum, oder?«
    Er erwiderte mein Grinsen freundschaftlich. »Nein, es steht für mich hier herum, und ja, ich habe schon anderen Frauen darauf vorgespielt. Aber nicht diese Nocturne. Die gehörte bisher nur mir.«
    »Ein Grund mehr, sie endlich zu teilen.«
    Vielleicht mochten mein Gesicht schwer lesbar sein und meine Augen entrückt, doch bei ihm sah das in Situationen wie dieser nicht anders aus – und es störte mich nicht. Es befriedigte mich, seinen Regungen zuzusehen, ohne mich damit zu belasten, was sie meinen und bedeuten könnten. Ich wollte ihm seine Rätsel lassen.
    Ich wandte mich ab und tat so, als würde ich durch den Garten wandeln, der aus allen Winkeln und Ecken zu mir flüsterte, ein beständiges, zartes Zirpen und Wispern, bis Angelo es doch wagte zu spielen und die ersten weichen Takte durch die duftende Luft schwebten. Sie berührten mich so tief in meinem Inneren, dass ich die Musik nur in der Bewegung ertragen konnte, ein bittersüßer Schmerz, den ich besser herannahen und willkommen heißen konnte als all die Selbstkasteiungen in den Jahren zuvor. Ich verstand, was Angelo meinte, als er gesagt hatte, er brauche Zeit, um diesem Stück gerecht zu werden. Auch die Melodie brauchte Zeit und Raum, sich frei zu entfalten; es wäre ein Frevel gewesen, sie in einen geschlossenen Konzertsaal zu sperren und ihren klaren und doch so verschlungenen Linien die Freiheit zu nehmen. Sie musste wandern können wie ich, während ich ihr lauschte und dabei hinnahm, dass Angelos Antlitz fern blieb, verborgen vor mir, die Lider niedergeschlagen, der Mund schweigend, seine Hände bei sich.
    »Ich schmeiß dich jetzt raus, Süße«, sagte er, als wir uns neben der zerfressenen Putte wiedertrafen, lange nachdem die Melodie verklungen war. Irgendwann musste auch er rauben.
    »Ich bin nicht süß.«
    »Da magst du recht haben. Es tut mir leid, ich kann mich an das ›Ellie‹ nicht gewöhnen und an deine anderen Namen auch nicht. Sie sind zu mädchenhaft für dich. Du bist kein Mädchen mehr.«
    »Aber süß bin ich auch nicht«, beharrte ich, obwohl ich jetzt schon bereute, ihm diesen Kosenamen verboten zu haben. Ich lehnte ihn normalerweise kategorisch ab, aber wenn er ihn aussprach, löste es eine kaum spürbare Gänsehaut zwischen meinen Schultern aus.
    »Wie soll ich dich nur nennen?«, überlegte Angelo halblaut und musterte mich, ein zurückhaltendes Liebkosen meiner Gestalt, deren Schatten gezackt und zerrissen auf dem Steinengel lag und seinen Schopf verdunkelte. Wir starben nach wenigen Jahren, unsere Namen waren oft verkehrt und meist Schall und Rauch. Die Ewigkeit aber war zu lang für einen falschen Namen. Er hatte seinen bereits gefunden. Was war mit meinem?
    »Gute Nacht, Betty Blue.«
    Betty Blue … Betty … Ich drehte mich um und lief durch das offene Tor, dann rannte ich, bis ich meine Schritte auf der Piano dell’Erba wieder mäßigte, weil ich den Heimweg genießen wollte, so kurz er auch war.
    Betty Blue? Hatte er es erfunden oder war es eine bekannte Figur, die so hieß? Betty Blue klang erwachsen, wehmütig und verspielt zugleich. Es kam mir vor, als habe ich diesen Namen schon einmal

Weitere Kostenlose Bücher