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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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nichts taten. Ich war es, die sie wandern ließ.
    Ich flüsterte zu ihm wie eine längst verstorbene Seele, wehmütiges Lispeln aus abgründigsten Tiefen, und verließ mich darauf, dass er mich hörte, selbst wenn er noch so fern durch die Wälder strich und die Tannen über seinem stolzen Haupt im Wind tosten.
     
    »Wo sind wir hier? Es ist, als ob …«
    Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Schroff fielen die Felsen zum aufgewühlten Meer hinab, aus steiler, schwindelerregender Höhe. Ich kannte diesen Platz. Ich war schon hier gewesen, ohne dass ich mich daran erinnern konnte. Er gehörte zu meinem Reich. »Es ist, als ob er zu mir spricht.«
    »Was erzählt er? Ein Märchen? Eine alte Legende?«
    »Eine wahre Geschichte.«
    »Möchtest du trotzdem die Legende hören?«
    »Ja.« 
    Unsere Arme berührten sich, als er die Hand hob und über die glitzernden Blauschattierungen des Meeres bewegte, auf dessen Grund so viele unentdeckte Schätze begraben lagen, dass ich am liebsten von hier oben zu ihnen hinabgetaucht wäre.
    »Man nennt diesen Ort das Capo Vaticano. Sarazenen raubten eine Frau – eine wunderschöne Frau, erzählt man – und hielten sie hier oben fest. Aus lauter Unglück soll sie sich ins Meer gestürzt haben. Seitdem leuchtet es in ihren Lieblingsfarben: Blau und Türkis.« Nicht nur das Meer, dachte ich. Ich sagte kein Wort mehr.
     
    Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus …
     
    In den letzten Tagen hatte mir die Sehnsucht den Hunger genom men. Ich brauchte nichts mehr. Keine Nahrung, keinen Schlaf. Keine Musik. Das Geschwätz der anderen hörte ich nicht.
    Mein Blut schien langsamer durch meine Adern zu fließen, wenn ich morgens an den Strand lief und alle Menschen noch schliefen. Ich kannte jede Eidechse, wie sie scheu ihre Steine bewachte, die der Schatten jeden Abend ein bisschen früher kühlte. Ich kannte die Ginsterbüsche, in denen das Zirpen der Grillen kauerte.
    Meine Haut war braun und seidig kühl. Mein Haar hatte helle Strähnen bekommen und meine Augen die Farbe von Meer.
    Man konnte in ihnen ertrinken.
    Eines Tages würde er es tun.
     
    … flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.
     
    Die letzten Atemzüge. Wenn die Sonne fast untergegangen war, saß ich auf dem kleinen Balkon, oben über dem Meer, und schaute den Fledermäusen zu. Wie köstlich, hier auf ihn zu warten. Sie umflatterten mich in ihren undurchsichtigen Zirkeln, nie da, nie fort.
    Die Hitze wich dem Rauschen der Silberpappeln und einer Vorahnung des Herbstes.
    Der Berg brannte, seit Tagen schon.
    Der Sonnenuntergang gehörte mir. Nur mir.
     
    Nie erreichte ich die Nebelschwaden auf dem Meer, wenn ich abends weit hinausschwamm. Noch ein paar Meter, dachte ich, noch zehn Züge, vielleicht zwanzig. Meine Beine wurden nicht müde. Meine Zehenspitzen testeten den kalten, tiefen Grund, so erquickend und labend.
    Jetzt konnte ich den brennenden Berg sehen, sobald ich mich umdrehte.
    Doch den Nebel, lockend und sanft, erreichte ich nie. Zu weit.
     
    Ich glaube, ich war glücklich.

AGAPE

WECKRUF
    »Ellie, bleib jetzt mal hier, bitte! Bitte!« Giannas Stimme wurde schrill. »Paul, halt sie fest!«
    Sein Arm schnellte nach vorne und seine Finger schlossen sich fest und stark um mein Handgelenk, doch ich reagierte, wie ich es vor langer Zeit gelernt hatte, und befreite mich mit einer geschickten Drehung aus seinem Griff.
    »Lass deine Flossen bei dir, Bruder«, warnte ich ihn. »Mein Gott, ihr tut ja so, als sei ich ein Schwerverbrecher. Ich will doch nur raus …«
    »Du kannst gleich wieder raus«, sagte Gianna betulich. Sie sprach mit mir wie mit einem Idioten. »Jetzt wollen wir mit dir reden.«
    »Ich wüsste nicht, was es zu besprechen gäbe, doch wenn es unbedingt sein muss, von mir aus. Aber macht schnell.«
    Sie hatten sich regelrecht vor mir aufgebaut, in unserem schmalen Flur, Schulter an Schulter, und versperrten mir den Weg zur Tür, was lachhaft war, denn ich konnte mich genauso gut umdrehen und durch den Hintereingang verschwinden. Ich fand ihr Benehmen über die Maßen kindisch. Ich hatte ihnen nichts getan. Paul sah mich verständnislos an, doch eigentlich hätte ihm ein solcher Blick gelten müssen.
    Ich wollte mich gerade ducken, um zwischen ihnen hindurchzuhuschen, als ein Klingeln ertönte, so laut, dass es in meinem Gesicht schmerzte. Ich zuckte zusammen und legte mir die Hände auf die Ohren.
    »Er ist es …«, flüsterte Gianna erleichtert, nachdem sie ihr Telefon

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