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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Flüssigkeit tropfte. Dann starb sie.
    Ich stützte meinen Kopf auf meine Hände. Meine Locken strichen im säuselnden Wind über seine schlanken Finger. Hinter mir fielen welkende Blütenblätter hinab, lila und blutrot, verströmten zum letzten Mal ihre wilde, betörende Süße, bevor sie starr wurden und unter meinen nackten Füßen zerbrachen.
    »Jetzt zeigt sie sich … sieh hin …«
    Er goss eiskaltes Wasser in das Glas und das ätherische Grün des Absinths begann sich zu kräuseln, Schlieren zu bilden, Gesichter und schlanke Gestalten, bis es matt wurde und die Fee sich vor unseren Blicken verbarg. Wir mussten sie in unseren Schlund hinunterziehen.
    »Beim ersten Glas siehst du die Dinge so, wie du sie gerne hättest.« Er senkte den Löffel erneut über die Flamme. »Beim zweiten Glas siehst du Dinge, die es nicht gibt.«
    »Sagst du?«
    »Sagte Oscar Wilde.«
    »Ist nicht alles, was man sieht und fühlt, auch da?«
    Er antwortete nicht, das musste er nicht, wir kannten die Antwort beide. Wieder zeigte die Fee sich uns, dieses Mal mit langem, wirbelndem Haar. Sie drehte Pirouetten im Glas. Dann verschwand sie, als wäre sie nie da gewesen.
    »Beim dritten Glas, sagt er, siehst du die Dinge, wie sie wirklich sind, und das ist das Grauenvollste, was dir widerfahren kann.«
    »Als Mensch.«
    »Ja, als Mensch.«
    Ich trank nur ein Glas.
    Ich brauchte die anderen beiden nicht.
     
    Die Luft ging durch die Felder, die Ähren wogten sacht …
     
    Wir fuhren ohne Helm, die Arme bloß, eingerahmt von Bergen und Meer. Seine azurblauen Tiefen lagen weit unter uns, schwindelerregende Abgründe trennten uns von ihnen, ein falscher Schlenker, ein Stein auf der Straße, ein entgegenkommendes Lastfahrzeug hinter einer der Serpentinen hätte das Ende sein können.
    Ich hielt mich nicht einmal an ihm fest. Ich breitete meine Arme aus, damit der Wind mit mir ringen konnte. Schwer drückte er gegen meinen Brustkorb und verwirbelte mein Haar. Ich würde es nie wieder kämmen können.
    Immer höher hinauf, fort von all dem Trubel und der blinden Geschäftigkeit der Städte und ihrer Menschen, die sich vergeblich abplagten, um ihr Leben vernünftig und klug schimpfen zu können. Endlich hatte ich mich davon befreit.
    Hinauf zu den Ruinen, wo es keine Gesetze mehr gab und keine Erwartungen, wo alles schon gestorben und vergessen war.
     
    »Es ist die perfekte Idylle.«
    Hierbleiben, mein Leben lang, im Licht stehen, gleißendes Licht überall. Wir saßen auf einer zerfallenen Mauer, um uns herum die Überreste einer vor Jahrhunderten verlassenen Stadt, in der nur noch Schlangen, Spinnen und Skorpione hausten. Die Zikaden schrien gegen die Stille an.
    Er hob die Hand und sie schwiegen.
    Jetzt hörten wir sie, die Geister, die nachts durch die Ruinen streiften und suchten, was sie verloren hatten. Wenn wir blieben, würden wir sie erlösen. Gelassen sah ich der Schlange zu, die sich neben uns auf den uralten Steinen sonnte. Ich erschrak auch dann nicht, als eine kräftige, gepanzerte Spinne unter einem ausgedörrten Ginsterbusch hervorkroch und meine Zehen streifte. Nicht ich fürchtete mich vor ihr. Sie fürchtete mich. Ich beugte mich nach vorne, um sacht ihre Fangarme zu berühren. Sie erstarrte in der Bewegung. Kühl fühlte sie sich an, kühl und samtig.
    »Geh weiter … geh rauben …«
    Die Sonne brannte auf mein Haar und meine Schultern. Ich wollte ihr jede Sekunde dafür danken. Wir kauten die Feigen der Kakteen, bis der klebrige Saft aus unseren lächelnden Mündern auf den Sand tropfte und die Ameisen anlockte.
    Wir ließen die Zikaden wieder singen, ihr altes Klagelied, das sich selbst dann noch erheben würde, wenn die Welt unter uns in Schutt und Asche lag.
     
    Es rauschten lets die Wälder, so sternklar war die Nacht …
     
    Wozu sich nahe kommen, wenn ich meine Träume hatte, die ich doch ganz alleine bestimmen konnte, sie formen und gestalten, wie meine Sehnsucht es verlangte?
    Ich war nicht einsam, sobald ich mich diesen Bildern hingab, ich spürte seine Berührungen, als wären sie da, wissend, dass ich nichts Falsches oder Liederliches tat. Er dachte auch daran, das wusste ich, ohne dass wir je darüber geredet hätten. Unsere Gedanken kreisten Tag und Nacht darum, vor allem nachts, wenn er raubte und ich im Dunkeln lag und sein Gesicht und seine Hände heraufbeschwor, seinen Mund, den ich immerzu küssen und schmecken wollte, seine Hände, die nichts falsch machen konnten, nicht bei mir … weil sie gar

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