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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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dicht über meinem, ich spürte seinen kalten Atem, aber noch immer konnte ich seine Züge nicht erkennen. Erst als weit über uns eine Sternschnuppe über das Firmament rieselte, wurde die Nacht für einen Sekundenbruchteil erhellt. Sein Antlitz war eine knochige, bleiche Fratze, seine Augen erloschen und leer.
    »Du hast es tatsächlich vergessen, oder?«, flüsterte er. »Du hast es vergessen … Oh Lassie, was sollen wir nur tun? Was tun wir mit dir?«
    Er ließ mich los, stand auf, trat von mir zurück, von mir, der Bestie, und wurde von der Nacht verschluckt.
    Ich blieb liegen, obwohl ich die Macht über meinen Körper zurückerlangt hatte, in mir ein tosender Sturm, der all meine Traumbilder zerriss und miteinander vermischte, bis nichts mehr einen Sinn ergab, sosehr ich sie auch zu retten und neu zusammenzusetzen versuchte.
    Erst im Morgengrauen begriff ich, was Colin getan hatte.
    Er hatte mir meine Träume geraubt.

LAURENTIUSTRÄNEN
    »Was hält dich eigentlich noch davon ab?«
    Sein Themenwechsel kam unvermittelt. Man konnte im Grunde nicht einmal von einem Wechsel sprechen. Wir hatten gar nicht geredet, nur dagesessen, mit den Rücken an unserem Boot am Strand, und in den Nachthimmel über uns geschaut, der immer wieder von Sternschnuppen erhellt wurde – so feurig und majestätisch, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte.
    Ich wünschte mir nichts. Es erschien mir zu kindlich, das zu tun, vor allem wenn es so viele waren, fast im Minutentakt zogen sie ihre erlöschenden Bahnen. Schutt aus dem All, hatte ich einmal gelesen, Überbleibsel der menschlichen Technik, die herabfielen und für immer verglühten, mit Sternen hatte das nicht unbedingt etwas zu tun. Wenn ich früher eine Sternschnuppe entdeckt hatte, hatte ich mir unweigerlich vorzustellen versucht, wie weit die Unendlichkeit reichte. Manchmal genügte es auch, nur in den Himmel zu sehen und Sterne zu betrachten, um diese Vorstellung auszulösen – eine Vorstellung, die unmöglich war, wie stellte man sich die Unendlichkeit vor? Es war ein Gefühl, als würden meine Gedanken gegen die Wände meines Schädels prallen und sich auflösen, und das hatte mir nackte Angst eingejagt.
    Doch jetzt, wo die Unsterblichkeit greifbar war, gab es angesichts dieser Vorstellung keine Angst mehr. Die Unendlichkeit und ich waren uns so nahe gekommen, dass ich mich nicht mehr vor ihr fürchten musste. Trotzdem verspürte ich keinen Drang, sofort zu antworten, als Angelos Stimme sich über das beruhigende, leise Rauschen der Brandung legte. Ja, was hielt mich noch davon ab?
    »Ich weiß es nicht genau. Zweifel?«
    Ich hatte keine Ahnung, woran ich zweifelte, aber es fühlte sich wie Zweifel an, eine störende Last im Bauch. Wenn ich zu sehr darauf achtete, muckte sie auf und machte sich groß und breit. Wenn ich versuchte, sie zu ignorieren, wurde sie kleiner, verschwand aber nie vollständig. Als hätte ich etwas Falsches gegessen, mit dem mein Magen seine liebe Not hatte. Das nervte mich, denn ich hatte meinen Bauch lange nicht mehr gespürt. Er durfte nicht wieder damit anfangen, mich zu behelligen.
    »Zweifel sind normal. Die gibt es immer. Ihr habt ständig und bei allem Zweifel, das ist eine typisch menschliche Eigenschaft.«
    »Wenn ich wenigstens wüsste, woran und warum ich zweifle«, murrte ich. »Dann könnte ich es widerlegen, aber so …«
    »Du denkst zu viel. Du wirst diese Zweifel nicht ausschalten können. Zweifel gehören zu euren Überlebensmechanismen, genau wie Angst. Sie sollen euch davor schützen, gefährliche Fehler zu machen oder riskante Situationen falsch einzuschätzen, die mit eurem Tod enden können. Das ist der ewige Zirkel der Menschen. Ihr versucht, etwas zu verhindern, was früher oder später unvermeidbar ist. Solange du Mensch bist, wirst du zweifeln, das steckt in dir drin.«
    »Hattest du denn auch Zweifel, als es … als es geschah?«
    »Ja«, gab Angelo, ohne zu zögern, zu. »Und wie. Aber sie verschwanden in dem Moment, als sie sich zu mir legte. Ab da war es nur noch schön.«
    Oh ja, ich sah es beinahe vor mir … Noch immer konnte ich mir Angelo nicht dabei vorstellen, wie er durch den Schmutz robbte und Menschen abknallte, doch diese Szene war sofort lebendig. Eine begehrenswerte junge Mahrin, die zu ihm kam, als er verletzt in der Einsamkeit des Schlachtfeldes lag, sich zu ihm hinabbeugte, seinen Kopf anhob, ihn küsste …
    »Du musst dich darüber hinwegsetzen, du hast gar keine andere Wahl. Es wird aufhören,

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