Dornenkuss
sobald du dich entschieden hast.«
»Ich weiß, aber ich kann noch nicht … Ich verstehe nicht, warum …« Ich nahm eine Handvoll Sand und warf sie in den sanften Abendwind.
»Hey, Betty. Mach dich nicht verrückt. Ich will dich nicht drängen, es ist nur … hm.«
»Was, hm?« Angelos Hms hatten immer etwas zu bedeuten – und zwar etwas, was er aus Höflichkeit oder Anstand nicht sagen wollte. Es waren ehrenhafte Hms, aber ich wusste inzwischen, dass sich dahinter oft die interessantesten und bahnbrechendsten Gedanken verbargen.
»Doch, ich sollte es dir sagen, du hast recht. Nicht dass du mir und dir anschließend Vorwürfe machst, wenn es nicht mehr geht.«
»Nicht mehr geht?« Was meinte er denn jetzt? Die Sternschnuppen waren nebensächlich geworden. Ich schob mich hoch und wandte mich ihm zu, doch seine Augen waren immer noch auf die schwarz funkelnden Wellenkämme gerichtet.
»Es gibt ein bestimmtes Zeitfenster, innerhalb dessen es problemlos möglich ist. Irgendwann schließt sich dieses Zeitfenster, bei dem einen früher, bei dem anderen später. Dann hat er seine Chance vertan und die Zweifel werden übermächtig, ohne dass ihm je bewusst werden wird, woran er zweifelt … Solche Menschen sind unruhig und getrieben und verlieren sich in nervenaufreibendem Aktionismus. Sie fangen ständig neue Beziehungen und Projekte an, ohne sie zu Ende führen zu können. Den meisten ist gar nicht klar, was sie verpasst haben, und irgendwann sterben sie viel zu jung an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, weil ihr Körper die permanente Anspannung nicht mehr verkraftet.«
Ja, solche Menschen hatte ich schon erlebt. Es gab sie. Und sie hätten die Chance gehabt überzutreten? Wussten sie davon oder hatte der Mahr entschieden, dass sie ungenießbar für ihn wurden, weil die Zweifel die Sehnsucht überlagerten?
»Aber …«
»Du hast den Zenit dieses Zeitfensters bereits überschritten, allzu viele Tage bleiben nicht mehr.«
Ja, das spürte ich auch. Es gelang mir nicht mehr, die Leichtigkeit in ihrer vollen Blüte zu bewahren, immer wieder entfloh sie mir, als würde sie sich aus meinen Händen winden, ein widerspenstiges Ding. Es gab Schuldige, das wusste ich, die anderen hatten dafür gesorgt, aber ändern konnte diese Erkenntnis nichts. Ich befand mich kurz vor dem Aufwachen aus meinem Traum namens Leben. Ich wollte nicht aufwachen. Ich hasste das Gefühl, aus einem schönen Traum zu erwachen und ihn nicht halten zu können, ich hasste es, begreifen zu müssen, dass er nie echt gewesen war. Aber dieser Traum hatte die Chance, echt zu werden, wenn ich es endlich schaffte, meine Zweifel zu besiegen.
»Nicht traurig sein, Betty … Es ist doch noch gar nichts verloren. Fühl dich bloß nicht zu etwas gezwungen, das will ich nicht.«
Angelo rückte etwas näher an mich heran, um seine Stirn gegen meine Wange lehnen zu können, eine zaghafte, zurückhaltende Geste des Vertrauens, die mich jedes Mal zutiefst rührte. Sofort beruhigten sich meine Gedanken, denn sein Kopf strahlte eine fast galaktische Ruhe und Beständigkeit aus … Nichts in seinem Denken und Fühlen war chaotisch und verbissen, es herrschte reine, zufriedene, erleuchtete Klarheit. Selbst das Meer schien leiser und verhaltener zu werden, als ich verzückt in die Stille lauschte, die sich durch unsere Nähe nun auch in mir ausbreitete. Ja, wenn man sich so fühlte, konnte man gar keine Zweifel haben … Ich schloss die Augen, um die Welt um mich herum zu vergessen und vollends in das wohltuende, gleißende Nichts einzutauchen, wurde aber schon nach wenigen Sekunden darin gestört.
Denn ein Telefonklingeln konnte kein Bestandteil dieses Nichts sein. Im ersten Moment war ich sogar davon überzeugt, mich geirrt zu haben, es konnte kein Klingeln ertönen, nicht jetzt, nicht während wir hier unten am Meer saßen. Wir trugen unsere Handys niemals bei uns, wenn wir nachts unterwegs waren, aber dieses Läuten war kein Handyklingeln, sondern das markante Düdeldidüdeididü eines älteren Festnetzapparates.
Ich blieb sitzen, Kopf an Kopf mit Angelo, und hoffte, es sei eine Sinnestäuschung gewesen, vielleicht war ich durch meine bohrenden Zweifel so gestresst, dass ich Sachen hörte, die es gar nicht gab.
Düdeldidüdeididü. Zum zweiten Mal. Keine Sinnestäuschung! Es war da. Angelo nahm seinen Kopf nicht weg, doch die Stille zog sich aus mir zurück. Ich schlug meine Augen auf und versteifte mich unwillkürlich, als das Klingeln erneut durch die
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