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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Wesen zu duzen, ohne vorher zu fragen, ob ich das durfte. Andererseits hatte ich in seinem Schoß geschlafen, und wenn ich es nun siezte, würde das diese Angelegenheit sehr befremdlich werden lassen. Ich konnte niemanden siezen, in dessen Armen ich mich vergessen hatte.
    »Mann oder Frau?«, erklang seine Stimme in meinem Kopf, während es mich ruhig anlächelte. »Beides.«
    »Ja, das sehe ich«, erwiderte ich trocken und hob das Brot wieder auf. »Ich meine eher … war es schon immer so? Oder …?«
    »Ich war ein Mann mit dem Herzen einer Frau, als die Nymphe kam und mich zu sich ziehen wollte, in einem Teich, in dem ich badete. Ich wehrte mich, doch sie war stärker, schlang ihren nackten Leib um mich, bis ich mich nicht mehr von ihr befreien konnte, und so wurde ich ein Teil von ihr. Seitdem bin ich ein Hermaphrodit.«
    Er sprach von der Metamorphose, anders konnte es nicht sein. Eine Mahrin hatte ihn verwandelt, doch er hatte es nicht gewollt, hatte gekämpft und sich widersetzt und letztlich doch verloren. Hermaphrodit – das klang so viel geheimnisvoller und melodischer als Zwitter. Nun konnte ich besser damit umgehen.
    »Wann war das?«
    »Vor mehr als zweitausend Jahren.«
    Ich hörte auf zu essen und rückte ein Stückchen von ihm ab. Vor mehr als zweitausend Jahren? Dieses Wesen war seit mehr als zweitausend Jahren auf der Welt und lebte in dieser kahlen Höhle in der Felsküste von Santorin, um sich nachts nach oben in die Stadt zu schleichen und zu rauben?
    Mir kamen die Worte in den Sinn, die es gestern zu mir gesagt hatte: Hilf mir, mein Kind. Hilf mir. Warum sollte jemand wie dieser Mahr Hilfe benötigen? Er musste gigantische Kräfte haben, auch wenn man ihm das auf den ersten Blick nicht ansah. In seinen wenigen Gesten wirkte er eher weich und nachgiebig. Trotzdem, nichts, was er tat, war zufällig, er beherrschte jede Muskelfaser seines Körpers. Er konnte mich mit einer minimalen Bewegung nehmen und am Felsen zerschmettern, wenn er wollte. Er musste ja nicht einmal seinen Kiefer bewegen, um mit mir zu sprechen, bisher hatte er seinen Mund nicht ein einziges Mal geöffnet. Vielleicht waren Bewegungen gar nicht nötig, um mich zu töten … oder um mich zu verwandeln?
    Denn dieser Mahr musste etwas mit Angelos und meinen Überlegungen zu tun haben, er war unfassbar alt, wahrscheinlich hatte er die Entscheidungsmacht über alle anderen Mahre da draußen, auch über Angelo … Ob ich ihn bitten konnte, Angelo zu uns zu holen?
    »Ich möchte etwas mit dir tun, was es dir leichter macht, es zu ertragen«, unterbrachen seine Worte das gleichmäßige Rauschen. »Damit es dir nicht wehtut.«
    Es zu ertragen – was zu ertragen? Was sollte ich ertragen, was würde mir wehtun? Die Metamorphose? War sie doch so schmerzhaft, dass ich eine solche Maßnahme benötigen würde? Ich erstarrte beinahe, als mein Gedächtnis mich kühl darauf aufmerksam machte, dass ich ähnliche Worte schon einmal gehört hatte. Jemand hatte etwas mit mir gemacht, damit ich die Gegenwart besser ertragen konnte, damit sie nicht wehtat.
    Ich drückte meine Handballen gegen die Augen, um mich zu erinnern, und die Bilder nahmen Gestalt an und näherten sich wie altvertraute Gespenster, die ich vertrieb, wenn ich wach war, und die mich heimsuchten, wenn ich schlief. Es war eine sternklare, kalte Nacht gewesen, ich sah meine nackten Füße auf dem feuchten Gras und meinen Kopf in seiner Halsbeuge, während die Jahreszeiten an uns vorüberflogen … Heiße Sonne auf meinem Rücken, Sturm in meinen Haaren und eisige Schneeflocken in meinem Nacken. »Warum weckst du mich nicht?«, hatte ich ihn gefragt und er antwortete: »Weil der Abschied zu sehr wehtun würde.«
    Colin … Es war Colin gewesen, Colin kurz vor seiner Flucht vor Tessa. Er hatte damals etwas mit mir gemacht, was mich den Abschied leichter hatte hinnehmen lassen; sogar die Trauer hatte ich für einige Stunden willkommen geheißen. Dann hatte sie mir das Herz zerrissen, für immer und ewig.
    »Colin«, flüsterte ich und berührte mit zitternden Händen meinen verzerrten Mund. Oh Gott, Colin. Colin, den ich geliebt und der mir meine Träume geraubt hatte. Er hatte sie geraubt – oder nicht? Ich war mir sicher gewesen, dass er das getan hatte. Wenn es stimmte, war jeder Gedanke an ihn zu viel. Aber was, wenn nicht? Und warum wollte ich weinen, wenn ich an ihn dachte?
    Nein, ich durfte jetzt nicht an ihn denken, ich musste mich mit dem befassen, was mir bevorstand. Wenn ich

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