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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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sorgte ich mich um sie; ich wusste nicht, wo sie waren. Waren sie schon zurück nach Deutschland gefahren und ich hatte es verpasst? Sie hätten sich von mir verabschieden müssen. Oder hatten sie es versucht?
    Der Einzige, an den ich noch verlässlich denken konnte, war Angelo; mit ihm wäre alles in bester Ordnung gewesen, wenn ich nicht so albern gewesen wäre und einen Flug gebucht hätte. Zu einem Mahr, der sterben wollte. Und der etwas mit mir vorhatte, was er mir nicht verraten wollte …
    Ich verbiss mich so sehr in meinen haltlosen Mutmaßungen, dass ich die Reize des Städtchens erneut ignorierte, für mich waren es nur Gassen, mustergültig sauber gefegte Gassen mit Touristenläden und Cafés und Restaurants, die sich mit fortschreitender Dämmerung leerten. Wo all die Menschen waren, die sie normalerweise belebten, sah ich, als der Mahr neben mir stehen blieb und auf die dunkelblaue Caldera blickte. Sie schauten sich den Sonnenuntergang über dem Meer an. Sie hatten sich hier versammelt, auf einem umzäunten Felsvorsprung, die Kameras vor ihren Augen, um zu beobachten, wie die Sonne im glatten Aquamarin versank, nichts Spektakuläres, es geschah jeden Tag. Warum dieser Aufruhr?
    Eine Gruppe Japaner hatte sogar eine tragbare MP3-Anlage auf das Mäuerchen am Rande des Felsvorsprungs gestellt und spielte Chill-out-Musik ab, doch sobald wir uns zu den Menschen gesellten, verloren die Batterien ihre Kraft und der Song verklang. Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, leerte sich der Aussichtspunkt nach und nach. Der Frau neben mir wurde sichtlich kalt und sie redete auf Englisch davon, krank zu werden, wenn sie länger hierbliebe. Ein Pärchen begann zu streiten, über Belanglosigkeiten. Eine Gruppe Seniorinnen beschloss, doch jetzt schon etwas essen zu gehen, obwohl ihre faltigen Münder sich wie vor Übelkeit verzogen.
    Als die Sonne ins Meer tauchte und die dünnen Schleierwolken über ihr in grellem Pink anstrahlte, waren wir vollkommen alleine. Wir hatten die anderen vertrieben. Ich spürte genau, dass es nicht nur der Mahr gewesen war. Auch ich hatte sie mit Unbehagen und Ruhelosigkeit erfüllt, ohne zu verstehen, warum. Mir war aufgefallen, dass der Mahr meine Haare zu einem Zopf geflochten hatte, während ich geschlafen hatte – wie, wusste ich nicht, ich selbst schaffte es nicht mehr –, doch noch immer konnte ich mich nicht überwinden, mein Gesicht abzutasten oder mich gar anzusehen. Ich wollte mich nicht sehen.
    Vielleicht ging es den Menschen genauso.
    Wir standen nebeneinander, die Hände auf die Mauer gelegt, und schauten zu, wie das Meer die Sonne zu sich nahm und für den Bruchteil einer Sekunde ein grünliches Leuchten am Horizont aufflackerte und wieder erlosch. Dann wurde es dunkel.
    »Können wir beginnen?«
    »Werde ich meine Freunde wiedersehen?« Der Satz war schneller ausgesprochen, als ich ihn zu Ende denken konnte. Doch auf einmal war diese Frage wichtiger als alle anderen.
    »Du wirst sie wiedersehen, wenn du auf dein Herz hörst.«
    Auch diesen Satz hatte so ähnlich schon einmal jemand zu mir gesagt. Wer, konnte ich nicht benennen, aber ich wusste, dass ich ihn in einer wichtigen Angelegenheit befolgt hatte. Vor langer, langer Zeit. Ich schwieg betroffen und versuchte, meine Panik in Schach zu halten, die sich wie eine erboste Schlange in mir erhob. Ich bestand nur noch aus Gedächtnislücken. Waren sie schon Teil seines Plans?
    »Ich werde nun dafür sorgen, dass du das, was du siehst, ertragen kannst, so lange, bis erledigt ist, was erledigt werden muss. Danach wirst du die Kraft haben, dich der Wahrheit zu stellen. Vorher wird es dich schützen. Bist du damit einverstanden?«
    »Ja«, wisperte ich. Ich brauchte Schutz, ich brauchte ihn mehr denn je, allen Schutz dieser Welt.
    »Gut. Dann wird es jetzt beginnen.«
    Ich rechnete damit, dass er meinen Kopf nehmen und seine Stirn gegen meine drücken würde, aber es geschah nichts dergleichen, er blieb stumm neben mir stehen und schaute aufs Meer, also tat ich es ihm gleich, während die Angst sich so schwer auf meine Brust legte, dass ich kaum mehr atmen konnte.
    Doch nach einer Weile gab ich meine Versuche, meine Lungen mit Luft zu füllen, auf. Ich musste nicht mehr atmen. Das Rauschen in meinem Körper ersetzte meinen Atem und verlieh mir mehr Kraft und Stärke, als der Sauerstoff in meinem Organismus es jemals könnte. Auch das Schlagen meines Herzens wurde überflüssig. Es setzte aus und überließ dem pulsierenden

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