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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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entfallen, was seine Augen mir gestern gezeigt hatten, doch auch ohne eine tiefere Bedeutung fraß meine Seele sich in ihnen fest, sobald ich mir erlaubte hineinzusehen. Trotz ihrer strahlenden Helligkeit, umschlossen von einem dunkelgrauen Ring, war ihre Tiefe bodenlos. Ich konnte in sie eintauchen, ohne Angst zu haben, dass ich fiel und mich verletzte. Sie fingen mich immer wieder auf. Vielleicht war das der abstruseste Punkt in dieser ganzen Farce hier: Obwohl ich von tiefer, aufrichtiger Ehrfurcht erfüllt war, flößte mir dieser Mahr keine Angst ein. Aber auch das konnte ein Trick sein; ich musste wachsam bleiben.
    Er ging mir voraus und kletterte behände über die Felsen, gekleidet in eine schlichte weiße Tuchhose und ein dünnes beiges Hemd, Seniorenklamotten, wie ich boshaft bemerkte, doch an ihm sahen sie eher aus wie die zeitlose Tracht eines indischen Yogalehrers. Seine Füße steckten in ausgetretenen Ledersandalen, Jesuslatschen, wie man so schön sagte, und einen Moment lang überlegte ich, ob sie vielleicht sogar aus der Zeit von Jesus stammten. Hatte dieser Mahr Jesus gekannt?
    Ungeschickt krabbelte ich ihm hinterher, bis wir den steilen Treppenweg hinauf zur Stadt erreichten, an dessen Fuße er mir die Gelegenheit gab, zu Atem zu kommen. Die Sonne stand tief und rot über dem Meer. Beklommen sah ich mich um. Außer uns war niemand hier.
    »Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang?«, fragte ich argwöhnisch.
    »Sonnenuntergang.«
    Sonnenuntergang? Das bedeutete, dass ich einen ganzen Tag lang geschlafen hatte, vierundzwanzig Stunden lang! Es war keine Einbildung gewesen, mein Zeitfenster schloss sich tatsächlich. Zwei Tage waren bereits verstrichen, seitdem ich Kalabrien und Angelo verlassen hatte; mir blieben noch weitere achtundvierzig Stunden, um zurückzukehren und alles zu klären, denn verwandelt wurde ich hier anscheinend nicht. Ich war völlig umsonst gekommen, verplemperte leichtsinnig meine Zeit! Vierundzwanzig Stunden lang schlafen, das musste doch nicht sein …
    Wir sollten uns sputen. Ich schritt mit ausladenden Bewegungen voraus, doch der Mahr ließ sich nicht hetzen, nahm sich Muße für jede einzelne Stufe, die vor ihm lag, begleitet von dem Rauschen in seiner Brust. Ich fragte mich, ob die anderen Menschen es nicht hörten und sich darüber wunderten, auch über seine zierliche Gestalt und seine frappierende Zweigeschlechtlichkeit, ganz abgesehen von diesen irrsinnig hellen Augen, denn nun kam uns doch eine Handvoll Touristen entgegen. Irgendetwas musste ihnen auffallen, das hier war ein Mahr, der sich ihnen ohne jegliche Zurückhaltung zeigte! Doch als sie uns passierten, wandte er seinen Kopf von ihnen ab und tat so, als würde er die Felsformationen studieren. Sie beschleunigten ihr Tempo ein wenig und hörten auf, miteinander zu sprechen, aber ihr Benehmen unterschied sich nicht wesentlich vom typischen Verhalten aller Menschen, wenn sie auf offener Straße einen verwahrlosten Penner erblickten. Vielleicht war er das sogar für sie, ein Penner, der in einer Höhle hauste und dem der Alkohol weibische Züge ins Gesicht gemalt hatte. Für das Rauschen in seinem Körper waren sie offenbar taub. Nur ich nahm es wahr.
    Der Aufstieg wurde immer mühseliger, obwohl die Sonne sank und der Wind meine Stirn kühlte. Mit jedem neuen Schritt kehrten einzelne Erinnerungen zurück, die mich überforderten und hilflos machten, weil ich sie nicht mehr in Einklang mit dem bringen konnte, was mich hierhergeführt hatte.
    Gianna … Gianna mit ihren Bauchschmerzen und ihren ehrgeizigen Versuchen, mir etwas zu erklären und mich auf etwas aufmerksam zu machen, aber was war es gewesen? Ich konnte es nicht wissen, ich hatte ihr nicht zugehört.
    Tillmanns Beichte, dass er drogenabhängig sei. Warum drogenabhängig – war er es die ganze Zeit gewesen und ich hatte es nur nicht registriert oder war es eine neue Entwicklung? Überhaupt, Tillmann und ich, waren wir nicht Freunde gewesen? Warum ärgerte ich mich dann, wenn ich an ihn dachte? Genau, es hatte einen Streit gegeben, weil er mich gefilmt hatte … Mir war immer noch nicht klar, warum er das getan hatte, ich hatte auf dem Film nichts Außergewöhnliches erkennen können. Paul hatte sich ebenfalls gegen mich gestellt, mich zu Bett geschickt wie ein kleines ungezogenes Mädchen, das bestraft werden musste – wie hatte er sich das herausnehmen können?
    Vor allem hatten sie ständig etwas an mir ändern, verbessern und korrigieren wollen. Trotzdem

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