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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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musterte seine leicht gebogene Nase, bewunderte die Gelassenheit in seinen Schultern und seine kleinen zarten Hände, die nicht zu den sehnigen Muskeln in seinen Armen passen wollten, ein einziges Gemisch aus weiblich und männlich, es verwirrte mich, aber es erfreute mich auch.
    Ich kroch zu ihm, um mein Gesicht auf seine Oberschenkel zu legen, die von einem weißen Gewand bedeckt waren, weiß wie das Laken meines Bettes, doch es nahm mich bei meinen Schultern und zog mich hoch. Das Rauschen verebbte.
    »Hilf mir, mein Kind … Hilf mir.«
    Mein Kind? Es zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, hellblau wie der Morgenhimmel kurz vor Sonnenaufgang, aber es war nicht ihre Farbe, die meine Brust aufbrechen ließ, bis das Salz des Meeres in winzigen Kristallen von meiner Haut sprang und als glitzernder Diamantenstaub auf den Boden rieselte. Es war die Art und Weise, mit der sie mich anschauten. Augen, denen ich immer vertraut hatte, Augen, die die Helligkeit nicht mochten und mich nach meinen dunkelsten Albträumen getröstet hatten … Augen, die mich aus Tausenden heraus erkannt hätten, mit einem einzigen Blick. Ich hatte sie so lange nicht mehr gesehen.
    Dazu sein Mund, sein Lächeln – nein, es war ihr Lächeln. Ihr Lächeln, wenn sie sich über meine Widerspenstigkeit mokierte und trotzdem keinen Zweifel daran ließ, dass sie sie mochte und sogar stolz auf sie war, ihr Lächeln konnte mahnend und verständnisvoll in einem sein oder sogar mit mir schelten, ohne dass es mich je zu beleidigen versuchte, manchmal lächelte sie auch nur, weil ich da war und neben ihr stand und lebte … denn ich war ihr Kind …
    Ich war ihr Kind. Ich hatte Eltern. Ich hatte einen Vater und eine Mutter. Sie schauten mich an und fragten mich, wo ich geblieben war. Wo war ich geblieben?
    Ich hatte sie vergessen.
    Ich hatte meine eigenen Eltern vergessen.
    Weinend sank ich in seinen Schoß, ließ es zu, dass seine Hände das weiße Gewand behutsam über meine bebenden Schultern zogen und meine Lider schlossen, um unserem Meister Einlass zu gewähren und an meiner Seite zu wachen, während ich in tiefschwarzer Nacht nachholte, was ich mir wochenlang verwehrt hatte. Meinen Schlaf.

IN MORPHEUS’ ARMEN
    In den ersten Sekunden des Erwachens wusste ich gar nichts mehr. Ich wusste nicht, wo ich war, warum ich hierhergekommen war, welche Tages- und Jahreszeit herrschte und auch nicht, was in den Stunden zuvor geschehen war. Ich konnte mich nur noch schemenhaft an das Wesen erinnern, auf dessen Knien ich immer noch lag und dessen gleichmäßiges Rauschen verhinderte, dass der Schlaf sich zu schnell davonstahl. Er löste sich langsam und nachsichtig von mir, ich hatte jederzeit die Möglichkeit, es mir anders zu überlegen und ihn zum Bleiben zu bitten, damit ich wieder ins Nichts hinabtauchen konnte.
    Das wollte ich nicht, aber noch war ich nicht bereit, meine Augen zu öffnen und mich mit der Gegenwart zu konfrontieren. Meine Lider mussten sich ausruhen, obwohl mein Geist schon klarer wurde; zu lange hatte ich es ihnen verwehrt, sich zu schließen, und jetzt, da sie sich endlich entspannen konnten und meine Augen nichts sehen mussten, fragte ich mich, warum ich das überhaupt getan hatte.
    Das war der erste Gedanke, der sich aus meinem Kopf erhob: Warum hatte ich nicht mehr geschlafen? Und trotzdem so viel geträumt, mich damit sogar in die Erschöpfung getrieben? Noch konnte ich nicht sagen, von wem ich geträumt hatte, aber das war es gewesen, womit ich meine kurzen Nächte und Nachmittage zugebracht hatte.
    Ich hatte offenen Auges geträumt.
    Deshalb war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, was von den Dingen, die ich in diesem Moment erlebte, Wirklichkeit war und was nicht. Durch das Rauschen hindurch hörte ich das Meer gegen Steine schlagen, es roch nach nassem Stein und Salz und verkrusteten Tauen. Der Boden unter mir war hart und kühl, obwohl ich ihn wie das weichste Himmelbett empfunden hatte. Erst jetzt nahm ich seine Unnachgiebigkeit wahr und auch meine schmerzenden Knie, auf denen ich lag und die das Gewicht meines Körpers ertragen mussten, vermutlich seit etlichen Stunden. Doch, diese Welt war real.
    Stöhnend stemmte ich mich hoch und zuckte zusammen, als sich die Schrammen in meinen Handflächen öffneten. Noch immer ließ ich meine Augen geschlossen.
    »Hier, trink.«
    Seine Stimme erschreckte mich nicht; das Abklingen des Rauschens hatte mich auf sie vorbereitet und sie tönte nicht in meinen Ohren, sondern in meinem Kopf,

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