Dornenkuss
es besser ertragen sollte, dann meinte der Mahr vielleicht gar nicht die Metamorphose, sondern wollte mir etwas Schlimmes zeigen oder sagen. Schlimmer als der Abschied von Colin im vergangenen Sommer?
Was sollte das sein? Betraf es am Ende Colin selbst? War ihm etwas zugestoßen? Oh nein … nein … Er hatte einem der Ältesten die Formel gestohlen, hatte er mir erzählt, während des Raubens, und beim ersten Mal beinahe mit seinem Leben dafür bezahlt. Scharfkantiger Stein hatte seinen Schädel aufplatzen lassen – Stein wie in dieser Höhle. Unwillkürlich griff ich an meinen Hinterkopf. Das Wesen vor mir musste eben jener uralte Mahr sein, er wusste davon und hatte Colin dafür bestraft, hatte ihn umgebracht … Er hatte ihn getötet! Genau das würde er mir zeigen wollen, Colins Tod, damit ich wusste, worauf ich mich einließ, wenn ich in die Welt der Mahre eintauchte. Damit ich nicht ebenso eigenmächtig wurde wie er …
Meine Gedanken rasten im Zickzack durcheinander, während ich rückwärts aus der Höhle zu kriechen versuchte, nur weg von diesem Mahr, er sollte nichts mit mir anstellen, ohne mir zu sagen, warum.
»Du hast Colin auf dem Gewissen!«, keuchte ich schwach. »Ich weiß es, du hast Colin getötet!«
»Nein.« Er öffnete zum ersten Mal seinen Mund, um zu sprechen, und ich gab meinen Fluchtversuch auf, als hätte jemand all meine Nervenstränge durchtrennt. Ich konnte mich nicht mehr rühren. »Er hat mich beraubt, während ich raubte, ein Frevel und unter uns Mahren das schlimmste Verbrechen, das es gibt. Ich hätte ihn töten müssen.«
»Und du hast es nicht, weil …?«, fragte ich angriffslustiger, als die Situation es mir erlaubte.
»Weil es keinerlei Sinn ergeben hätte. Er hat die Formel aus meinem Kopf geraubt. Ich habe sie nicht mehr. Ich hätte sie wiederum ihm rauben müssen, sobald ich wieder zu mir gekommen war, aber ich wusste auch, dass sie allein ihm nichts nützen würde. Er musste sie weitergeben, so schnell wie möglich. An Wesen, die lieben können.«
Er hatte sie an mich weitergegeben. An mich … Doch in diesem Moment konnte sogar ich mich nicht mehr an sie erinnern.
»Dann raubst du sie jetzt also von mir. Und tötest mich dann. Prima. Los geht’s, nur keine Scheu!«, forderte ich ihn mit wackeliger Stimme auf. »Allerdings erinnere ich mich nicht mehr an sie, kann gut sein, dass du gar nichts findest! Aber bitte – mein Kopf ist euer Reich. So war es doch immer, oder?«
Er lächelte milde. »Du wirst dich wieder an sie erinnern, mein Kind, und dann hoffe ich, dass du mir eines Tages hilfst. Tu es, wenn du so weit bist. Ich will gehen, ich bin zu lange hier. Es ist nicht recht, dass ich noch da bin. Ich möchte sterben.«
»Oh ja, das kommt mir irgendwie bekannt vor«, murrte ich. »Die nervige alte Litanei. Ich bin nicht die offizielle Mahr-Sterbehilfe, klar?«
»Darum geht es nicht.«
»Nicht?« Verflucht, worum ging es denn dann? Ich würde in dieser Höhle noch meinen Verstand verlieren. Er wollte mich nicht berauben, er wollte mich nicht töten, verwandeln offensichtlich auch nicht, was mich enttäuschte, aber auch ein wenig erleichterte, denn im Moment war ich mir in nichts mehr sicher und ich wollte, dass Angelo es tat, nicht der Hermaphrodit. Ja, Angelo sollte es tun. Also, wozu war ich hier? Es war Zeitverschwendung, nutzlose Zeitverschwendung, die mich nur weiter von Angelo entfernte. Mein Zeitfenster schloss sich gerade, ich konnte dabei zusehen. Das Licht schwand mit jeder Minute, die verstrich. Ich war so blöd, warum war ich überhaupt hierhergereist? Nur wegen eines Anrufs? Konnte ich denn gar nicht mehr vernünftig denken?
»Die Verwirrung wird sich lichten«, versprach der Mahr ruhig. »Es dauert seine Zeit, bis der Geist sich erholt. Erst möchte ich etwas tun, was es dir leichter macht, es zu ertragen.«
Okay, das hatten wir eben schon einmal gehabt. Senilität oder Hypnose? Doch was machte das schon aus, er würde sich ohnehin nicht abhalten lassen, er fragte mich ja gar nicht, er kündigte es nur an. Ich musste es über mich ergehen lassen.
»Aber nicht hier. Nicht in dieser Höhle. Bitte nicht. Ich möchte etwas sehen können.«
»Du wirst etwas sehen. Und dein Wunsch soll dir gestattet werden, gehen wir nach draußen.«
Ohne jegliche Eile erhob er sich. Ich hatte mich nicht vertan, als ich seine Größe geschätzt hatte, sein Haupt reichte bis zu meiner Schulter, was seiner imposanten Ausstrahlung keinen Abbruch tat. Mir war wieder
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