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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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vorher schon gespürt, aber nicht gesehen, weil ich meine Augen geschlossen hielt, doch als ich merkte, dass ich müde wurde, hab ich sie geöffnet und dich gesehen. Wir waren nicht mehr in unserem Zimmer in Hamburg, sondern in einer Art Wüste, vor einem Feuer, wir tanzten um das Feuer und dann hast du einen Ast hineingestoßen und Funken sprühten …« Ich brach frustriert ab. Ein Erstklässler hätte besser beschreiben können, was vor sich gegangen war, als ich, überwältigt von schmeichelnder Todessehnsucht und dem lähmenden Hunger nach Schlaf, gegen die Heizung gerutscht war. Meinen Worten fehlte die Magie, die ich dabei empfunden hatte.
    Doch Tillmann wollte gar nichts Genaues wissen. Er stellte keine Fragen mehr. Sein Kopf hatte meine Schilderung bereits verarbeitet und abgespeichert, befand sich schon wieder drei Stationen weiter. Was hast du nur vor?, fragte ich ihn im Geiste. Worüber denkst du nach? Warum hast du danach gefragt, was bezweckst du damit?
    Sprechen konnte ich nicht mehr. Es war zwar eine Wohltat zu spüren, dass die Kopfschmerzen mich aus ihrem unbarmherzigen Foltergriff entlassen hatten, aber ich würde nicht viel davon haben, denn in wenigen Sekunden würde ich vornüber in die Steine kippen. Falls sie mich nicht vorher erschlugen …
    Endlich öffnete Tillmann die Klappe. Wie ein Baby krabbelte ich dem rettenden Ausgang entgegen. Tillmann musste mich stützen, als ich mich aufrichtete. Dankbar legte ich meinen Kopf in den Nacken und öffnete meinen Mund, um die Regentropfen aufzufangen. Alles drehte sich, auf eine schwebende, nachsichtige Art und Weise. Wenn ich nun fiel, war es nicht schlimm. Das Laub unter meinen Füßen würde mich abfedern und die Kälte des Grunds würde mich erquicken. Doch die Schwerkraft hielt mich im Gleichgewicht. Ich blieb stehen.
    Unsere Körper dampften unter dem prasselnden Regen vor sich hin. In verschlungenen Zirkeln stiegen die Nebel aus unserer Haut hinauf in die Baumwipfel und vermischten sich dort mit den tief hängenden Wolken. Die Natur hatte uns in ihre Arme geschlossen. Versunken schauten wir auf den schäumenden Bach, den die Wasserlasten dieses Frühsommers zu einem wütenden, von Strudeln durchsetzten Höllenschlund verwandelten. Wie bei Colins und meiner ersten Begegnung im Gewitter. Erinnerungen … Dieser Wald barg zu viele Erinnerungen. Und keine von ihnen konnte ich mehr genießen. Doch der allumfassende Schwindel linderte nicht nur die Pein in meinen Schläfen, sondern nahm auch meine Seelenschmerzen für eine kleine Weile mit sich.
    »Ich habe das Gleiche gesehen, Ellie. Ich hatte die gleiche Vision«, sagte Tillmann leise, als es vorüber war und wir zu zittern begannen.
    »Ich weiß«, erwiderte ich tonlos. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst.
    »Wir tun es, egal, was Gianna und Paul machen. Wir tun es, oder?«
    Es war keine Frage und ich musste auch nicht antworten. Unsere Entscheidung befand sich weit außerhalb jeder vernünftigen Diskussion. Sie hatte mit dem Leben aller anderen Menschen nichts mehr zu tun – und sie stand felsenfest.
    Tessa hatte uns beiden einen Schaden zugefügt, wie andere ihn niemals erahnen konnten. Wir mussten unsere Haut retten. Giannas und Pauls Beschluss gestern war einer jener Beschlüsse gewesen, die man am nächsten Morgen gerne mal als Schnapslaune bezeichnete und schnell wieder verwarf, obwohl er einem am Abend vorher noch spannend und aufregend und vielleicht auch ein bisschen verrückt vorgekommen war.
    Bei Tillmann und mir sah es anders aus. Tillmann kämpfte darum, Tessa hassen zu können. Und ich kämpfte darum, Colin lieben zu können. Ohne diesen Kampf würden wir uns selbst nicht mehr lieben können.

KEIN WEG ZURÜCK
    Als ich aufwachte, herrschte um mich herum eine alles verschlingende Dunkelheit, wie es sie nur noch abseits der Dörfer und Städte in der freien Natur gab, und ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Möglicherweise vermisste mich jemand und fragte sich, wo ich blieb, doch diese Gedanken blieben flüchtig und rührten nichts in mir, zu betörend war die Trägheit, in der mein Kopf und mein Körper sich ungeahnt friedvoll miteinander vereint hatten. Ich fühlte mich vollkommen und ich wollte diesen Zustand so lange wie möglich bewahren. Er stellte sich selten genug ein.
    Nachdem der Regen uns ausgekühlt hatte, waren Tillmann und ich zurück unter die schützenden Planen der Schwitzhütte gekrochen, wo die Steine immer noch genügend Wärme abgaben. Der Schwindel war

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