Dornenkuss
nach seiner Begegnung mit Tessa entdeckt hatte und die zeigte, dass er in seinem zarten Alter mehr erlebt hatte als die meisten anderen Jugendlichen. »Ich produziere vermutlich so gut wie gar kein Serotonin mehr. Du weißt, wozu Serotonin da ist?«
Ich nickte. Ja, das hatten wir in Biologie gelernt – einer von Herrn Schütz’ Exkursen, dieses Mal zum Thema Winterdepression und Heißhungerattacken auf Schokolade. Serotonin spielte bei allerlei Vorgängen im Körper eine Rolle, die für das seelische Gleichgewicht unverzichtbar waren. Dunkle Schokolade kurbelte die Serotoninausschüttung an.
»Wirklich gar kein Serotonin mehr?«, fragte ich unbehaglich. Was Tillmann hier andeutete, klang nicht nur dramatisch, sondern auch gefährlich.
»Um das zu wissen, müsste man Langzeitstudien mit mir anstellen und in mein Gehirn gucken. Denn dort finden die eigentlichen Ausschüttungen statt. Im Blut und im Urin war auf jeden Fall kriminell wenig vorhanden und Dr. Sand meint, dass daraus meine Schlafstörungen resultieren und noch … andere Dinge.« Die kleine Pause vor »andere Dinge« trieb meinen Forschergeist an. Ich musste von diesen anderen Dingen erfahren.
»Was für andere Dinge?«
Tillmann schwieg sich aus. Ein permanent niedriger Serotoninspiegel konnte Depressionen auslösen, das wusste ich, doch die Wirkungen des Botenstoffs waren so komplex, dass ich allein aus diesem Zusammenhang keine verlässlichen Rückschlüsse auf Tillmanns Gesundheitszustand ableiten konnte. Ernsthaft depressiv erschien er mir jedenfalls nicht; dazu war er zu aktiv und zu energiegeladen.
»Gibt es denn Therapiemöglichkeiten?«
»Antidepressiva. Hab ich gleich abgelehnt. Will ich nicht.«
Draußen begann es wie zur Bekräftigung in Strömen zu regnen, ein beruhigendes, gleichmäßiges Prasseln auf dem Dach des Zeltes. Tillmann ließ die Klappe wieder zu Boden gleiten und wir tauchten erneut ein in die nächtliche Schwärze des Inipi, erhellt nur durch das sanfte Glühen der Steine. Es dauerte eine Weile, bis Tillmanns Umrisse als rötliche Silhouette hinter ihnen auftauchten, ein Geist, der aus der Dunkelheit erschien. Seine Augen hinterließen feurige Spuren in der Finsternis, als er seinen Kopf wendete.
»Aber wenn die Medikamente dir helfen würden …«
»Lieber schlafe ich nicht mehr, als rammdösig zu werden.«
»Man wird von Antidepressiva nicht rammdösig.« Das wiederum wusste ich von Papa. Die modernen Antidepressiva linderten, ohne abhängig zu machen oder zu schwere Nebenwirkungen auszulösen.
»Aber sie verändern etwas in mir, oder? Das tun sie. Sonst würden sie ja nicht wirken. Ich möchte so wie jetzt bleiben, auch wenn es schwer ist. Ich muss so bleiben, wenigstens eine Weile noch, bis alles erledigt ist.«
Bis alles erledigt ist. Keine Einkaufsliste, sondern ein Mord. Ja, es würde einen Mord geben. Es musste ihn geben.
In gedankenverlorenem Schweigen blieben wir sitzen, bis die Hitze mich schwindelig machte und der Schweiß in winzigen Tränen über Tillmanns Narben rann. Sogar das Handtuch hatte ich neben mich gelegt, weil jeder Millimeter meiner Haut nach Luft lechzte. Um nicht zur Seite zu kippen, richtete ich meinen Blick auf das matte Glühen der Steine, die durch das Flimmern der Hitze ihre Größe zu verändern und zu atmen schienen. Sie lebten … gleich würden sie auf mich zurollen, wie bei einem Erdbeben … Ich wollte Tillmann gerade darum bitten, die Luke zu öffnen, als seine Stimme durch das Dunkel schwebte, so greifbar und plastisch, als könne ich sie aus der Luft klauben und auf meine Zunge legen.
»Was hast du gesehen, als wir uns in Trance getanzt haben? Erinnerst du dich noch? Was hast du gesehen, bevor du in den Schlaf gefallen bist?«
Oh ja, ich erinnerte mich – an diese kalte, dunstige Hamburger Nacht, in der wir in aller Stille tanzten, die Musik in unseren Ohren, hörbar nur für uns, um den Schlaf auf Abstand zu halten, während Paul nebenan nichts ahnend Träume tankte, die François ihm aussaugen würde. Kaum etwas hatte mich stärker an Tillmann gebunden als diese entrückten Stunden. Wäre ich ein Künstler gewesen, hätte ich meine Vision längst auf einer Leinwand festzuhalten versucht. War es denn eine Vision gewesen? Oder eine Halluzination?
Mein Atem strömte sengend wie Wüstenwind durch meine Kehle, als ich zu erzählen begann, schleppend und mit trockener Zunge, die nur widerwillig Laute formte.
»Das Zimmer hatte plötzlich keine Wände mehr … Ich hab das
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