Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
saß gemeinsam mit ihm auf der alten Holzbank unter dem Dach und sah den Fledermäusen zu, die über uns durch die Dunkelheit schwirrten.
    Colins Haus war uns genommen worden.
    »Ich kann hier nicht mehr bleiben«, hatte er geschrieben, der einzige Satz in seinem Brief, in dem ich eine menschliche Regung wahrgenommen hatte. Ich kann nicht. Es bedeutete nicht »Ich will nicht«, sondern meinte genau das, was er geschrieben hatte. Er konnte nicht. Er hatte kein Zuhause mehr. Ich wusste nicht, was genau in diesem Haus im Wald vor sich ging, aber vermutlich war es ein Spuk, den man weder sehen noch hören noch riechen konnte. Die Mauern hatten aufgenommen, was in ihnen geschehen war. Colin und ich würden sie nie wieder betreten können, ohne dabei an Tessa zu denken. Vielleicht war das Haus aber auch von Insekten, Spinnen und Schaben besetzt und dieser Anblick würde all die schönen Erinnerungen nur gefährden.
    Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu schluchzen, als ich begriff, dass ich es ernst meinte. Ich würde dieses Haus nie wieder betreten. Colin würde dort nicht mehr wohnen. Er würde es verkaufen. Ich hatte heute Morgen eine Immobilienanzeige in der Zeitung gelesen, deren Beschreibung exakt auf dieses Haus zutraf. Wahrscheinlich würde es niemand haben wollen. Es würde zerfallen und die Natur würde sich die Ruine zurückerobern. Dort, an diesem verwunschenen Platz, hatte Tessa gesiegt.
    Aber wenn wir sie erst einmal aus der Welt geschafft hatten, würden wir neu beginnen können, woanders, nicht hier im Wald, sondern vielleicht in einer Stadt. Ich hatte keine Idee, wo das sein sollte, doch dieses Land war groß genug, um einen Platz für uns zu finden, an dem wir endlich aufatmen konnten.
    Noch stand mir nicht der Sinn danach, einen solchen Platz zu suchen. Zwei Aufgaben lagen noch vor mir, eine wichtiger als die andere. Doch die Gewissheit, dass Tillmann und ich gemeinsam in diesen Krieg ziehen würden, war die stärkste Waffe, die ich bekommen konnte.
    »Leb wohl, ich liebe dich«, flüsterte ich und meinte dabei nicht Colin, sondern sein Haus, den Wald, unseren Sommer, das Glück, das ich hier gefunden und verloren hatte, den schlafenden Menschen neben mir und auch ein kleines bisschen mich selbst.

NUR OHNE MEINE MUTTER
    »Lars, nein, stopp, nein! Bist du noch dran? Lars!! Kacke!«
    Ich knallte das Handy auf den Tisch und fuhr mir durch meine Haare, um endlich einen klaren Kopf zu bekommen, doch eine neue Niessalve erschütterte mich, bis der Rotz über dem gesamten Computerbildschirm versprüht war. Für andere Menschen war Schnupfen nur ein Schnupfen und mit Nasenspray behebbar. Für mich, Elisabeth Sturm, war Schnupfen eine der schlimmsten Krankheiten, denn ich vertrug kein Nasenspray. Weil ich aber mit dichter Nase nicht denken konnte, nahm ich es trotzdem und wurde mit trommelfeuerartigen Niesattacken bestraft. Ich bekam Gesichts- und Bauchmuskelkater davon. Die anderen amüsierte es, wenn ich zehn-, fünfzehnmal hintereinander öffentlich explodierte, aber ich litt.
    Ich wartete, bis der Anfall vorüber war, und betupfte meine geschwollene Nase notdürftig mit meinem durchweichten Taschentuch. Putzen durfte ich sie nicht, das würde einen neuen Anfall auslösen. Das hatte ich nun von unserem indianischen Saunieren und einer Nacht im Freien. Eine dicke, fette Erkältung.
    Schnorchelnd griff ich nach meinem Handy. Ich musste Lars zurückpfeifen. Dieses Mal hatte er aufgelegt, nicht ich. Er war schon unterwegs! Lars wollte tatsächlich zu uns kommen, mitten in der Nacht, er schlängelte sich gerade durch Hamburgs Großstadtverkehr und würde bald die Autobahn erreicht haben. Jemand wie Lars scherte sich nicht um Besuchszeiten. Er würde auch morgens um drei bei uns Sturm klingeln und erwarten, dass alle Gewehr bei Fuß standen. Ich musste ihn zur Vernunft bringen. Doch er ignorierte mein Klingeln. Er nahm nicht ab, so wie ich in den Tagen zuvor.
    Ich hatte eben nur abgenommen, weil ein alter Automatismus durchgebrochen war. Als ich noch mit Nicole und Jenny befreundet gewesen war, verabredeten wir uns oft im Chat und hatten unser Handy immer griffbereit neben dem PC, um die Feinheiten abzusprechen. In alter Gewohnheit hatte ich auf den grünen Hörer gedrückt, ohne die Nummer auf dem Display zu checken. Dabei chattete ich nicht, sondern hatte mich in eine Infoseite über Serotoninmangel vertieft. Sofort war mir ein Satz ins Auge gesprungen, der schon jetzt wie ein Stein in meinem Bauch lag: »Ein

Weitere Kostenlose Bücher