Dornenkuss
Reißverschluss vorhin nicht vollkommen geschlossen. Wie in Slow Motion hob ich meine Hand, griff nach hinten und zog ihn zu. Ich durfte Tillmann auf keinen Fall aufschrecken, dazu war sein Schlaf zu kostbar. Doch es gelang mir, den Schlafsack so weit zu schließen, dass nur noch unsere Köpfe herausschauten. Am liebsten wäre ich vollständig hineingekrochen, denn meine Haare waren immer noch klamm, aber das hätte tatsächlich für monumentale Missverständnisse sorgen können.
Also blieb ich still liegen und lauschte auf das, was der Wald mir erzählte. Es war nicht meine erste Nacht, die ich im Freien verbrachte, und auch nicht meine erste Nacht mit Tillmann. Schmunzelnd dachte ich an unsere Flucht vor Colin zurück, als wir seinen Traumraub bei den Heckrindern im Grenzbachtal beobachtet hatten. Damals litt Tillmann noch unter Asthma. Ich war fast durchgedreht, als er nach einem halsbrecherischen Sturz in eine Schlucht einen Anfall hatte und wir das Spray nicht finden konnten. Kurze Zeit später stellten wir fest, dass wir uns hoffnungslos verlaufen hatten und erst bei Anbruch des Tages wieder zurückfinden konnten. Unser erstes gemeinsames Abenteuer.
Dann war da noch meine Nacht mit Colin, die wir neben seinem Waldkindergarten verbracht hatten. Vorher hatte er mich im Traum seine Erinnerungen erleben lassen – seine Erinnerungen an die Metamorphose mit Tessa. Außer mir vor Schrecken, Schmerz und Angst war ich in den Wald gerannt, um ihn zu suchen. Ich fand ihn auf einer Lichtung, wo er in aufreizender Gelassenheit eine Schonung baute, mit Werkzeuggürtel um die Hüften und Nägeln in seinem Mund. Bob, der Baumeister, dachte ich und kicherte unterdrückt. Schließlich war der Wolf gekommen und hatte uns beide von seinen Träumen kosten lassen, damit Colin mich wärmen konnte …
Der Wolf war nicht mehr da, grundlos erschossen im vergangenen Winter. Sie hatten ihn einfach abgeknallt. Mein Speichel schmeckte bitter, als ich schluckte, um meine Tränen auf Abstand zu halten. Die Flut an Erinnerungen, die sich in mir aufgestaut hatte, rollte über mich hinweg, doch ich hielt sie aus und sah sie mir an, versuchte trotz ihrer Last weiterzuatmen. Denn die unverhoffte, wärmende Zweisamkeit mit meinem besten Freund gab mir die Sicherheit, den Gedanken aushalten zu können, dass ich nur noch diese Erinnerungen hatte. Es gab keinen Weg zurück. Es würde nie wieder so werden wie am Anfang.
Der Wald hatte seinen Zauber nicht verloren, das nicht. Ich erlebte ihn so intensiv wie lange nicht mehr – die Rufe der Käuzchen, das Knistern im Unterholz, wenn Wild an uns vorüberzog, das Rauschen des Baches, den flüsternden Wind in den Tannenwipfeln und das vorsichtige, zögernde Zirpen der ersten Grillen. Die Grillen zirpten bereits und ich hatte nicht einen einzigen Sommertag genießen können. Wenn die Sonne sich einmal gezeigt und gegen die Wolken gesiegt hatte, hatten mich meistens die Kopfschmerzen aus dem Garten vertrieben. Doch nun war schon Anfang Juni und es kam mir vor wie in meinen wiederkehrenden Träumen: Ich verpasste den Sommer. Ich wachte irgendwann auf und er war schon fast vorüber und ich fragte mich panisch, wie ich diesen Verlust bewältigen konnte. Ja, wie sollte ich den Verlust des Sommers bewältigen? Wie sollte ich die Vorstellung ertragen können, dass all diese Erinnerungen auch Erinnerungen blieben, nicht wiederbelebt werden konnten, wie sollte ich jemals ohne Wehmut und Melancholie an sie denken können?
Ich musste Abschied nehmen. Wir würden nicht auf den Sommer warten, sondern ihm entgegenfahren. Fort von allen Altlasten. Aber auch fort von dem, was ich geliebt hatte. Während meine Tränen warm über meine Nase perlten und in den Schlafsack sickerten, reiste ich noch einmal zurück zu Colins Haus, ohne Spinnweben, die sich von Baum zu Baum zogen, ohne Tessas wollüstigen Tanz in der Abenddämmerung, ohne Wassergräben, die Colin aus der schweren Erde gehoben hatte, um sie auf Distanz zu halten. Ich fühlte die samtige dunkelrote Decke unter meinen Fingern, auf der ich das erste Mal meinen Kopf an seine kühle Schulter gelegt und neben ihm geschlafen hatte, ließ meine Augen über die frappierend moderne Kücheneinrichtung gleiten, spürte das prasselnde Kaminfeuer in meinem Rücken, ergötzte mich an dem Anblick der Katzen, die sich so gerne um Colin drapierten, wenn er meditierte. Ich hockte wieder auf dem umgeklappten Klodeckel, während er in seinem Designerbad meine Wunden versorgte,
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