Dornenkuss
in die Haut bohrten, und führte mit der rechten trotz Enzos Klammergriff eine weitere Gabel Pasta zum Mund.
Mühsam schluckte ich, doch eine besonders hartnäckige Nudel blieb an meinem Gaumen kleben, weil die Tränen sich in meinem Schlund zu einem ihrer berühmten Gewaltangriffe sammelten, wie immer, wenn ich meiner Wut keinen Raum ließ. Dann gab sie einer übermächtigen Trauer freies Geleit. Dabei war die Situation lediglich unangenehm; ich war es nicht alleine, die mir leidtat. Enzo tat mir ebenfalls leid. Es war mir, als ob sein Lebensglück davon abhinge, was ich aß. Auf einmal hatte ich den irrigen Gedanken im Kopf, dass er nur von seiner Trunksucht loskäme, wenn ich noch eine Taube und einen gebratenen Hasen bestellte. Doch mir war bereits schlecht. Und wenn sich in Pauls, Giannas und Tillmanns Leben nichts änderte, würden sie ebenfalls anfangen zu trinken. Alles nur meinetwegen. Ich hatte die Mahre auf sie angesetzt.
Ich musste weg, sofort. Ich wischte mir den Mund mit der Papierserviette ab, leerte im Stehen meine Limonade, um die störrische Nudel wegzuspülen, und verließ mit einem zittrigen Gruß das Restaurant, bevor ich die Herrschaft über mich verlor.
Mein Kanal war voll. Ich konnte nichts mehr von dem, was mir hier geboten wurde, in mich aufnehmen, geschweige denn verarbeiten: den Anblick von Tillmann und Paul, die mit Macht versuchten, Enzos Alkoholspiegel zu überbieten, die unglückliche Gianna, wie sie sich bemühte, die Macken ihres Vaters zu vertuschen, und mir völlig fremd vorkam, wenn sie mit ihm auf Italienisch über mich redete, die Beflissenheit der Kellner, die unaufgeforderte Anteilnahme an allem, was ich tat, und vor allem an dem, was ich nicht tat.
Ich konnte es ihnen nicht recht machen. Dazu hätte ich ein anderer Mensch werden müssen. Oh, wie oft schon hatte mich das zum Weinen gebracht – dieses lähmende, erdrückende Gefühl, nicht zu genügen, den anderen nicht fröhlich und witzig und stark und oberflächlich genug zu sein. Sondern stets zu kompliziert und sensibel und schwierig. Vor allem schwierig. Eine einzige Spaßbremse.
Ich war aber nun mal Elisabeth Sturm, ich konnte es nicht ändern und sehnte mich plötzlich in die eisige Polarnacht zurück, wo die Sturms Sturms sein konnten, ohne bewertet und diskutiert zu werden. Weil wir es allein taten. Hier aber hatte ich das Gefühl, ein Hemmschuh zu sein, indem ich war, wie ich war.
Wie meistens, wenn ich die Einsamkeit suchte, verflog meine Wut, doch der Eindruck, mir selbst ausgeliefert zu sein, blieb. Wurde das denn nie besser? Als Colin und ich uns im Wald bei den Wölfen versöhnt hatten, war ich der festen Überzeugung gewesen, zäher und robuster geworden zu sein. Dass mich nichts mehr so leicht aus der Balance bringen würde. Welche Balance, zum Teufel? Es gab keine Balance. Selbst wenn ich mit mir im Reinen war, konnten mich immer noch die Sorgen und Probleme der anderen Menschen von jetzt auf nachher hinunterziehen, als wären sie meine eigenen. Ich fand keine Distanz zu ihnen. Ich fühlte Tillmanns brennende Sehnsucht nach Tessa, Giannas Angst und Scham, Pauls krankhafte Schwere. Es war zu viel für mich.
Wie sollte ich so nur leben, mit all dieser Trauer und Wut und diesem verdammten Mitgefühl? Ich konnte es ja nicht einmal vernünftig umsetzen! Stattdessen haute ich ab.
Während ich in meinem Kopf Argumente zurechtlegte, mit denen ich später meinen plötzlichen Aufbruch begründen wollte, ohne jemanden zu verletzen, lief ich mehr blind als sehend dem Burghof entgegen, der sich ohne jegliche Brüche in das mittelalterliche Stadtbild einfügte. Erst als ich die Mauerbrüstung erreicht hatte, beschloss ich, meine Umgebung wahrzunehmen, und wurde mit einem Panoramablick belohnt, der mir den Atem stocken ließ.
Ich sah hinab auf eine ausgedehnte Landschaft mit sanft gerundeten Hügeln, in deren flachen Tälern sich die Felder und Wiesen wie Teile eines antiken Mosaiks aneinanderfügten, eine berückende Sinfonie aus Blau- und Grüntönen, die nicht kühl ozeanisch wirkten, sondern warm und verspielt. Ganz in der Ferne, wo die Hügel einer Ebene Platz machten, glaubte ich, einen Streifen Meer zu erkennen.
Trotz der Lieblichkeit, die dieser Ausblick barg, war dies kein lieblicher Ort. Links und rechts von mir thronten zwei schwarze Kanonen vor der Mauer, stabilisiert durch uralte, verwitterte Holzbalken. Sie wirkten intakt und schussbereit, als müsste man sie nur mit Munition füttern und befeuern,
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