Dornenkuss
sitzenden Nachbarn auszuschimpfen –, bestand er darauf, dass er und sie bei ihm übernachteten. Anscheinend hegte er trotz seiner Trinkerei noch hohe Moralansprüche. Ich traute ihm zu, dass er sich neben das Bett seiner abtrünnigen Tochter postierte und wie ein Schießhund darauf aufpasste, dass Paul ihr nicht zu nahe kam.
»Ihr besorgt euch wohl besser ein Zimmer in einer Pension«, raunte Gianna Tillmann und mir zu, nachdem Enzo Paul am Ärmel in das Innere des Hauses gezogen hatte. »Zu wenig Platz hier.«
Ich versuchte, sie anzulächeln und ihr zu sagen, dass das alles okay sei, schaffte es aber nicht. Meine Kopfschmerzen waren zusammen mit der Wut machtvoll wie eh und je zurückgekehrt, nachdem wir aus dem Auto gestiegen waren, und ich fühlte mich schwindelig und weichgekocht. Eigentlich wollte ich mit niemandem mehr sprechen, sondern mich nur noch in ein kühles Zimmer legen und die Beine ausstrecken, und gleichzeitig fürchtete ich, ins Nachdenken zu verfallen und zu kapieren, dass meine Italienrecherchen bisher vollkommen für die Katz gewesen waren.
Das hier war nicht das Land, das sich mir im Internet präsentiert hatte. Es war etwas völlig anderes. Als hätte Italien eine zweite Identität, die von seinen Bewohnern und Fürsprechern künstlich im Verborgenen gehalten würde. So musste es sein, wenn man eine Prüfung absolvieren wollte und bei der ersten Frage bemerkte, dass man sich auf ein falsches Thema vorbereitet hatte. Übrigens auch einer meiner wiederkehrenden Albträume seit dem Abitur.
Das kühle Pensionszimmer blieb ebenfalls ein Luftschloss. Eine halbe Stunde später öffneten Tillmann und ich die Tür zu einer überhitzten Kammer mit großen Fenstern zur Straße hin, die nach Mottenkugeln stank und uns mit einem quietschenden Einzelbett und einem Schrankbett entzückte. An den Wänden hingen kitschige Gemälde; ein kunterbuntes Blumengesteck und ein grinsender Harlekin in gestreiften Pluderhosen. Ich hasste Clowns seit meiner Kindheit und versuchte, es abzuhängen, doch der Haken ließ sich nicht vom Nagel lösen. Nach kurzem Überlegen wählte ich das Schrankbett, da es sich näher am Fenster befand und ich seit dem Betreten des Raums unter Erstickungsängsten litt. Vor allem aber musste ich von diesem Bett aus nicht auf den Clown blicken.
Tillmann bestand darauf, seinen eckigen, sperrigen Koffer mit ins Zimmer zu nehmen, obwohl wir extra leichte Reiserucksäcke für die Übernachtung auf halber Strecke gepackt hatten. Langsam ging seine Gepäckbesessenheit Gianna und Paul auf den Wecker. Mich nervte sie nicht nur, mich beunruhigte sie auch. Wieder musste ich daran denken, dass Serotoninmangel Lust auf Kokain hervorrufen konnte. Aber Kokain nahm kaum Platz weg; um es zu transportieren, brauchte man keinen Koffer. Das konnte nicht der Grund sein.
Als Tillmann duschen ging, lupfte ich vorsichtig den geöffneten Deckel und tastete mit der anderen Hand den Inhalt ab. Alles ganz normal – Klamotten, Badeschlappen, Socken und – nanu, was war das? Eine Pappkiste in Schuhkartongröße. Ich hob die Shirts an, die ihn bedeckten, um einen Blick darauf werfen zu können.
»Was soll das? Warum wühlst du in meinen Sachen?«
»Du linke Ratte!«, fauchte ich Tillmann an. Manchmal war Angriff die beste Verteidigung und meine Wut suchte ohnehin nach einem Ventil. »Lässt die Dusche laufen und schleichst dich an mich heran? Was ist in dem Karton?«
»Eigentlich geht es dich einen Scheißdreck an«, entgegnete Tillmann kalt. »Aber wenn du es unbedingt wissen willst, bitte.« Er gab den Blick frei auf den Kartondeckel. Inhalt: eine Großpackung Biobitterschokolade aus fairem Anbau. Herr Schütz ließ grüßen. Ich verstand sofort, warum Tillmann diese Schokoladenmassen mit sich führte. Dunkle Schokolade kurbelte die Serotoninausschüttung an. Wahrscheinlich hatte er deshalb ständig umgepackt – er hatte Angst, dass sie in der Hitze schmelzen könnte. Trotzdem leuchtete mir sein Verhalten nicht ganz ein. Es war nur Schokolade, keine Großpackung Antidepressiva, also nichts, wofür man sich schämen musste. Außerdem passte es nicht zu Tillmann, sich für etwas zu schämen. Das war gewiss nicht der Grund, weshalb er die Antidepressiva als Therapie ablehnte.
Trotzdem beließ ich es dabei, gnädig zu nicken und ihn den Koffer wieder schließen zu lassen.
»Schnüffel nicht in meinen Sachen rum, Ellie, ich hasse das«, warnte er mich mit einem Blick, der mir eindringlich zeigte, dass er bei
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