Dornenkuss
Südens?
Enzo konnte Deutsch sprechen, das wusste ich von Gianna. Er hatte jahrelang in Deutschland bei Mercedes gearbeitet. Doch uns gegenüber sah er nicht ein, auch nur eine einzige deutsche Silbe zu verwenden. So hatte Gianna die mühselige Aufgabe, seine Wortgewitter zu sortieren, das Wichtigste herauszupicken und zu übersetzen. Es waren in erster Linie zwei Themen, die Enzo beschäftigten: Essen und bambini. Beim Essen kannte er sich aus wie kein anderer und würde natürlich alles besser machen als die Inhaber dieses Restaurants, wenn es denn seines wäre. Bambini waren ebenfalls ein Reizthema, denn er fand, dass Giannas Kinderplanung schon lange überfällig sei. Je später die Frauen bambini bekämen, desto schneller würden sie dahinwelken, und er wolle keine verdorrte Rose als Tochter haben. Im gleichen Atemzug zweifelte er vehement Pauls Fortpflanzungsfähigkeit an. Paul nahm es gelassen und mit seinem typisch derben Humor, was Enzo immer öfter zu einem johlenden Lachen ermunterte, bei dem wir nie genau wussten, ob es dazu diente, Paul zu verhöhnen oder sich gemeinsam mit ihm zu freuen.
Mich überanstrengte bereits die Auswahl des Essens. Die Speisekarte hätte genauso gut auf Chinesisch erstellt worden sein können. Ich konnte nicht eine einzige Zeile übersetzen. Vielleicht hätte ich besser daran getan, Italienisch zu lernen, anstatt beim Surfen ständig auf unwichtige Werbeseiten abzudriften. Hilfe suchend blickte ich Gianna an, die sogleich ihren Vater befragte, und obwohl Enzo an vernichtender Kritik nicht sparte, attestierte er dem Laden die besten Nudeln der Provinz Rimini. Ich entschied mich dazu, ihm zu vertrauen – schließlich sagten Kinder und Betrunkene gemeinhin die Wahrheit –, und bestellte Nudeln mit sugo, was immer das auch sein mochte.
»Gut, Nudeln, und dann?«, dolmetschte Gianna.
»Nichts dann. Nudeln«, antwortete ich spröde und kam mir furchtbar dumm dabei vor. Hatte ich etwa immer noch nicht verstanden, was die beiden mir sagen wollten? Enzo redete aufgeregt weiter und stieß beim Gestikulieren beinahe sein randvolles Weinglas um.
»Er will wissen, was du danach möchtest? Hase? Taube?«
»Taube? Ihr esst Tauben?«, fragte ich mit unverhohlenem Entsetzen und biss mir sofort auf die Lippen. Enzo wollte zwar kein Deutsch sprechen, doch ihm entging bestimmt nicht, was ich gesagt hatte. »Nein, lieber nicht, danke. Ich esse nur die Nudeln. Das reicht mir.«
Gianna winkte resolut ab und wirkte dabei höchst italienisch, was sie mir ein wenig entfremdete, denn ich fragte mich nach diesem langen Tag zum wiederholten Male, warum Italien eigentlich für seine Schönheit und Harmonie gepriesen wurde wie kaum ein anderes Urlaubsziel. Italien war das Land der Liebe, das Land, in dem die Zitronen blühten, das Land der Kunst, Architektur und Mode und augenscheinlich auch das Land der Völlerei. Nudeln als Vorspeise – das war ein Attentat auf mich und für Paul das Schlaraffenland. Ich wusste sofort, dass ich meinen primo piatto, wie der Berg an Tagliatelle verniedlichend genannt wurde, nicht würde aufessen können. Die Soße war zwar eine Offenbarung, aber sie hinterließ einen See aus Olivenöl. Ich hatte schon immer eine Abneigung gegen zu viel Fett gehabt. Es verschloss mir den Magen.
Enzo jedoch nahm bereits meine Taubenverweigerung persönlich und attackierte mich fortwährend mit neuen Wortkaskaden. Gianna hatte es aufgegeben zu übersetzen und es brachte mich zunehmend in Bedrängnis, ihm nicht antworten und sagen zu können, dass ich zufrieden mit meinen Nudeln war und das alles doch nicht böse gemeint war. Ich hatte das ungute Gefühl, nach allen Regeln der Kunst ausgeschimpft zu werden. Warum half mir denn keiner? Ich wollte mit einem flehentlichen Blick Pauls Aufmerksamkeit wecken, doch er guckte mit schweren Lidern ins Nirgendwo, während Tillmann ungeniert ein paar steilen Italienerinnen nachglotzte. Sämtliche Männer an diesem Tisch waren betrunken.
Ehe ich Gianna ansprechen konnte, die gerade mit dem Kellner schnatterte, packte Enzo mein Handgelenk und rüttelte es. Was wollte er? Ich ahnte, was geschehen würde, wenn ich die Kontrolle über meine Wut verlor. Schon bauten sich Fantasien in meinem Kopf auf, in denen ich die komplette Tischdecke wegzog und das Geschirr krachend auf dem Steinboden zerschellte, Soße und Hasenknochen überall, und die anderen anschrie … Nein, das durfte ich nicht. Ich ballte meine linke Hand zu einer Faust, bis die Nägel sich
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