Dornenkuss
eben nicht aussuchen.«
Hätte ich denn einen anderen Vater haben wollen? Einen echten Menschenvater? War es Papas Mahrblut, das ihn für mich so besonders machte, oder wäre unser Verhältnis noch viel inniger gewesen, wenn er niemals angefallen worden wäre? Was wusste ich überhaupt wirklich über ihn?
»Er liebt mich über alles. Ich bin sein kostbarster Schatz, sein Engelchen«, sagte Gianna erstickt. »Aber er kann nicht begreifen, dass ich anders leben will, als es in Italien für mich möglich wäre. Er kann und will das nicht begreifen. Ich könnte hier nicht leben, ich könnte das nicht … obwohl ich jedes Mal, wenn ich herkomme, denke, ich müsste es tun, weil es keine einzige Straße in Deutschland gibt, über die ich so selbstsicher laufen kann wie durch diese Gassen. Ist das zu wirr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht.«
Gianna seufzte schwer. »Er hat sich von Kind an durchbeißen müssen, weißt du. Er ist in nackter Armut groß geworden, dann ist er nach Deutschland gegangen, um sich den Buckel krumm zu arbeiten, hat sich nichts gegönnt, alles gespart, sich das Haus im Süden gebaut, um den anderen zu zeigen, dass er es geschafft hat. Und keiner will dorthin. Meine Mutter lehnt es ab, ich war seit Jahren nicht mehr unten, es steht die meiste Zeit leer. Sein ganzes Erspartes hängt darin. Er will dort nicht einziehen, weil er darauf wartet, dass ich es tue, samt italienischem Mann, und lebt stattdessen hier im Norden in der Absteige seiner verstorbenen Tante, wo jeder auf ihn herabschaut und niemand ihn respektiert …« Gianna schluchzte auf und wischte sich über die Nase. »Es ist nicht fair, aber ich kann ihm nicht helfen. Ich kann nicht!«
Meine Hände schwitzten vor Scham. Enzo mochte mittelalterliche Vorstellungen von Moral und Familienplanung hegen, doch wahrscheinlich hatte ich ihn mit meinem zurückhaltenden Benehmen beleidigt. Ich hatte mich benommen wie ein Trampeltier, so, wie man es meinen Landsleuten im Ausland gerne nachsagte. Eigentlich fehlten nur noch die Speckhüften und der Sonnenbrand.
»Gianna, es tut mir furchtbar leid, ich konnte das alles nicht mehr filtern, es war zu viel. Es ging nicht.«
»Hör schon auf, Ellie, ist doch okay … Mann, du warst heute Mittag mindestens eine Viertelstunde lang ohnmächtig, eigentlich hätten wir dich in ein Krankenhaus bringen müssen!« Gianna tätschelte mir die Schulter, aber ich begann zu frösteln, obwohl die Luft nichts von ihrer liebkosenden Wärme verloren hatte.
»Eine Viertelstunde?«
»Ja. Vielleicht auch zwanzig Minuten, ich habe nicht auf die Uhr geschaut, aber es war richtig schwierig, dich wieder wach zu kriegen … Ellie, alles in Ordnung?«
»Nein«, wisperte ich und setzte mich auf die Mauerbrüstung. »Ich dachte, ich hätte nur ein paar Sekunden lang auf dem Boden gelegen und sei sofort wieder aufgestanden, weil das Haus …« Ich brach ab. Weil das Haus mich zu sich gerufen hatte? Gianna nahm neben mir Platz und sah mich forschend an.
»Es kann schon sein, dass man während einer Ohnmacht das Zeitgefühl verliert, so ähnlich wie bei einer Narkose. Das ist nicht ungewöhnlich, oder?«
»Nein, aber …« Wieder wusste ich nicht, wie ich formulieren sollte, was mir durch den Kopf ging. Vielleicht, weil sich der konkrete Gedanke zu plump anhörte. »Ich hab mich gefragt, ob … ob in diesem Haus vielleicht ein Mahr wohnt.«
Gianna fing lauthals zu lachen an. »Ellie, das war ein Heuschober! Das würde dem Bauern aber auffallen, wenn da jemand drin wohnen würde.«
»Es war kein Heuschober, es war ein … ach, egal.« Anscheinend hatten mir meine überreizten Sinne einen Streich gespielt. Auch mir kam die Vorstellung, ein Mahr – oder gar Tessa persönlich – würde einige Hundert Meter von der Autobahn entfernt in einer bäuerlichen Scheune wohnen, absurd und lächerlich vor. Mein Verhalten war ebenfalls lächerlich gewesen. Ich hatte nichts mehr getrunken, um nicht pinkeln zu müssen, weil ich die Klos nicht betreten wollte. Das war kindisch.
»Vielleicht lag’s auch an der Musik. Keane, der Song, der gerade lief«, versuchte ich mich halbherzig zu erklären.
»Ja, der geht unter die Haut. Wusstest du, dass der Sänger schwer drogenabhängig war?« Gianna nutzte jede Gelegenheit, um meine musische Bildung voranzutreiben, und ich hatte ihr soeben eine geboten. Sie stürzte sich darauf wie ein Raubvogel. »Angeblich hat er sich in seine Kokainsucht geflüchtet, weil er darunter litt, dass
Weitere Kostenlose Bücher