Dornenkuss
um einen neuen Krieg anzuzetteln. Ja, ich konnte mir gut vorstellen, dass man von hier aus Ränke schmieden und Schlachten führen konnte, bei denen es keinerlei Zweifel gab, dass man sie gewinnen würde. Koste es, was es wolle. Die bauchigen Blumentöpfe, die den Burghof säumten und vor den Häusern der Anwohner standen, milderten das kriegerische Ansinnen dieser Festung kaum, nein, die blutroten Blüten der Gewächse betonten es sogar.
Auf einmal wollte ich vergessen, was wir vorhatten und planten. Nämlich genau das: einen Krieg. Es genügte mir, hier zu sein, hinunter auf die Schönheit dieser Welt zu blicken und mich selbst aus der Verantwortung meines Daseins zu ziehen. Ich wünschte mir eine Macht, die mich führte und mir genau sagte, was ich zu tun und zu lassen hatte. Das Diktatorendasein war anstrengend geworden. Meine Blicke tauchten erneut in das Blaugrün vor mir ein, um sich zu beruhigen. Es half.
»Ist das wirklich das Meer?«, flüsterte ich wie im Traum.
»Ja, das ist es.« Gianna war neben mich getreten und richtete ihre gelblichen Augen, die mich immer an nasse, glänzende Bernsteine erinnerten, fest auf den Azurstreifen am Horizont. Die Sonne war bereits untergegangen, doch der Himmel wollte sich seine Helligkeit nicht nehmen lassen. Er strahlte immer noch.
»Eigentlich liebe ich dieses Land«, sprach Gianna leise weiter. »Es ist so schön. Aber das kann man nicht immer sehen und oft täuscht es einen auch, deshalb … Ellie … es tut mir leid, ich hatte gehofft, dass mein Vater aufgehört hat zu trinken oder dass ich mich darin geirrt hatte und es nur eine Phase war, aber …« Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre seidigen Haare wie Krähenfedern durch die Luft wirbelten. »Falsch gehofft. Er tut es immer noch. Scusa. Er meinte es nicht böse, als er dir das Essen anbot, aber …«
»Das weiß ich doch, Gianna.« Ich bereute meinen überstürzten Aufbruch mit einem Mal so sehr, dass ich Gianna nicht ins Gesicht sehen konnte. Ich hatte mich unhöflich verhalten, nicht nur Giannas Vater gegenüber, sondern auch gegenüber ihr selbst. Denn genau so etwas hatte sie befürchtet. Deshalb hatte sie Angst gehabt. Angst vor unseren Reaktionen. Außerdem hatte ich nicht verbergen können, dass ihre Heimat eine riesengroße Enttäuschung für mich war, angefangen von der Raststätte, den labberigen Sandwiches, die wir unterwegs verspeist hatten, dem Temperament der Menschen bis hin zu der Qualität unserer Herberge heute Nacht und dem Mottenkugelgestank im Zimmer. Wie hatte ich mich nur so gehen lassen können?
»Ich weiß auch nicht, was in mich …«
»Nein, Ellie, lass mich ausreden«, bat Gianna. Ich wagte, sie anzuschauen. Eine Träne rann über ihre Wange. »Du kannst doch nichts für das Alkoholproblem meines Vaters. Ich weiß außerdem sehr gut um dieses Land. Es kann einen erschlagen. Italien ist krass. Ich kann es besser kaum ausdrücken. Es ist ein krasses Land. Es überwältigt einen und wirft einen auf sich selbst zurück. Manche Menschen können damit umgehen, vor allem die, die nur Spaß haben wollen und alles oberflächlich betrachten, aber wer so ist wie du oder ich, steht unter Schock. Auch ich stehe jedes Mal unter Schock, wenn ich hierherfahre. Du musst dich diesem Land ergeben, sonst wird es dich ausspucken wie eine faule Frucht.«
Ja, genauso hatte ich es empfunden. Das hätten meine Worte sein können, wenn ich Giannas sprachliches Talent besessen hätte. Sie hatte sich viele Gedanken über meinen Zustand gemacht, stellte ich erstaunt fest – und sie verstand mich sogar. Umso stärker belasteten mich meine Schuldgefühle. Doch noch immer wollte sie mich nicht darüber reden lassen.
»Ich weiß, dass die Autobahnraststätten zwischen Mailand und Modena manchmal eine Zumutung sind, und auch die Poebene – na ja, es ist nicht das, was man sich vorstellt, oder?« Ertappt. Sie lächelte mich schief an. »Ich hab mir auch gedacht, dass du glaubst, wir fahren heute ans Meer, aber ich … ich konnte dir das nicht sagen, genauso wenig, wie ich euch sagen konnte, dass mein Vater …« Ihre Tränen hinderten sie daran weiterzusprechen.
»Ach, Gianna …« Ich war noch nie außergewöhnlich begabt im Trösten gewesen und schätzte Gianna nicht als eine Frau ein, die von einer Jüngeren in den Arm genommen werden wollte. Deshalb entschied ich mich, sie sanft anzurempeln, froh darüber, dass sie über sich redete, anstatt mich auszuquetschen. »Man kann sich seine Eltern
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