Dornenliebe
Schwindelgefühl. Neben ihr wartet die Kellnerin.
»Geht schon vor«, bittet sie die Gruppe, »ich bin gleich so weit.« Durch die Glastür sieht sie die anderen nach draußen treten, lauscht ihren Stimmen nach, Parviz lässt einen lockeren Spruch ab, Judith und Katharina lachen. Dann verschleiert das geriffelte Material der Glastür ihre Umrisse, bis sie verschwunden sind.
»Sechs Euro und fünfzig«, sagt die Kellnerin, Luna gibt ihr sieben Euro und bedankt sich, dann steuert sie ebenfalls den Ausgang an, späht kurz durch die Scheibe, ehe sie die Tür aufzieht; die anderen scheinen schon einige Meter vorausgegangen zu sein. Plötzlich nimmt Luna jedoch eine andere Bewegung wahr, die Silhouette einer einzelnen Person, zuerst ist es nur ein Schatten, dann meint sie, die Gestalt genau zu erkennen, die jetzt nur wenige Schritte entfernt vorbeigeht. Sie erstarrt, schaut noch einmal. Die große, schlanke Statur, der edel gewölbte Hinterkopf, das dunkelbraune, exakt geschnittene Haar, selbst jetzt in der nächtlichen Dunkelheit und durch das unebene Glas eindeutig erkennbar. Er kann nicht wissen, in welchem Lokal Luna zu diesem Zeitpunkt ist; vor wenigen Minuten hat Sarah erneut bestätigt, er
habe sich nicht gemeldet. Dennoch ist sich Luna vollkommen sicher, und gerade diese Gewissheit, an der es nicht den leisesten Zweifel gibt, obwohl er nicht angekündigt hat zu kommen, lässt sie erstarren.
Die Gestalt, die soeben vorbeigegangen ist, ist Falk.
6.
A ls Luna auf die Straße tritt, ist sie hellwach. Wie gejagt blickt sie sich um, entdeckt weder Falk noch die anderen Studenten; wenigstens das Schwindelgefühl ist fast weg. Ganz ruhig, beschwört sie stumm sich selbst; ganz ruhig, Luna, es ist nichts passiert, du hast mehr getrunken, als du verträgst, es kann auch eine Täuschung gewesen sein und der Mann hinter der Glasscheibe war nicht Falk. Aber gleichzeitig spürt sie mit untrüglicher Gewissheit, dass es keinen Sinn hat, sich etwas einzureden. Noch immer spürt sie Falks Nähe geradezu körperlich, er ist überall, Luna sieht ihn hinter jeder Litfasssäule, jedem Stromkasten am Straßenrand, jedem Busch in den jetzt im Herbst vernachlässigten Vorgärten der Mietshäuser. Luna weiß nicht, in welche Richtung sie gehen soll, soll sie nach Falk suchen oder versuchen, die Rallyegruppe zu erreichen? Instinktiv hastet sie auf die belebteste Straße zu, hier könnte es wenigstens eine Bushaltestelle geben, wenn sie niemanden mehr findet, könnte sie bis zur nächsten S- oder U-Bahnstation fahren und dort in aller Ruhe den Schienennetzplan studieren. Versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen, und dann nach Hause fahren, spät genug ist es auf jeden Fall. Nach Hause oder zu Falk, der auf sie wartet. Aber sie weiß nicht, wie sie zu ihm gelangen kann, bisher hat Falk sie immer mit dem Auto abgeholt, wenn sie vorhatten, sich in seiner Wohnung aufzuhalten.
Luna kennt nur die U-Bahnstation in der Nähe ihrer eigenen Wohnung.
Ein leichtes Frösteln überkommt sie, die feuchte Kälte des späten Oktoberabends kriecht unter ihre Kleidung und setzt sich zwischen ihren Schulterblättern fest. Unwillkürlich verkrampft sie, beschleunigt ihre Schritt, doch das macht es kaum besser, das Rauschen fahrender Autos auf regennasser Straße verschluckt die Geräusche, nach denen Luna lauscht. Schritte von hinten, Atemzüge in ihrem Nacken, das Knirschen von Straßenstaub unter Männerschuhen. Sie wagt nicht, sich umzublicken, sie greift sich an die Stirn, sie muss keine Angst haben; wenn Falk wirklich hinter ihr her läuft, dann ist er gekommen, um auf sie zu achten, er weiß, wie wenig Alkohol sie nur verträgt, er ist ihr Freund, hat gesagt, dass er sie liebe. Wenn er ihr gefolgt ist, dann aus Sorge, er will für sie da sein, spürt, dass sie ihn womöglich braucht. Falk lässt seine Freundin nicht nachts durch Berlin ziehen. Luna verdrängt das Gefühl von Furcht bei der Vorstellung, ihm jetzt unvermittelt zu begegnen.
Am Kurt-Schumacher-Platz ist noch ein Schnellrestaurant geöffnet, Luna strebt mit langen, eiligen Schritten darauf zu und späht durch die verglaste Wand ins Innere. Um diese Zeit sind nur noch wenige Gäste im Raum, sie erkennt ihre Kommilitonen sofort, drückt erleichtert die Tür auf und strebt ins Innere. Jaron, der an der Kasse gerade seine Bestellung aufgegeben hat, dreht sich um, routiniert, als habe er dies bereits in regelmäßigen Abständen getan. Seine Augen leuchten, als er Luna erblickt, eifrig
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