Dornenliebe
können. Das mit der Pendeluhr, gut, das hätte nicht sein müssen, das war vielleicht ein bisschen hart als Bestrafung, aber du hast an jenem Nachmittag im Januar so getrotzt, nicht mehr auszuhalten war es … «
Luna lässt den Brief sinken. Falk, ausgesetzt. Falk, ein Adoptivkind, gefunden in einem Pappkarton. Falk als Kind, ein kleiner Junge, dessen Schicksal in seiner neuen Familie vielleicht nicht viel glücklicher verlaufen ist, als es bei seiner leiblichen Mutter der Fall gewesen wäre, von der er offenbar nichts weiß. Die er nicht kennt. Luna sieht eine gestärkte weiße Tischdecke vor sich, dunkle Möbel vor einer abblätternden Tapete, die Standuhr mit Pendel, das gespenstisch langsam hin und her schwingt, mit einem tiefen, zögernden, lauten Gong die halbe und volle Stunde verkündet, in einem dunklen Raum, Falk als kleiner Jungen davor, eingesperrt wegen einer kindlichen Verfehlung, schreiend vor Angst, die Hände auf die Ohren gepresst. Ungehört.
Mehr will Luna nicht wissen. Ihre Hände zittern, als sie den Brief wieder in seinen Umschlag schiebt, ihn auf den Stapel legt, den Stapel zurück in den Schrank presst, die Türen zuwirft, schnell; mit gehetztem Blick sieht sie sich um, als hätte man sie beobachtet. Als hätte Falk sie beobachtet. Ich bin schon fast wie er, denkt sie; wühle hier in seinen Sachen herum. Vielleicht sind wir stärker miteinander verwoben, als ich dachte.
Das Bild von Falk als verstörtem kleinem Jungen lässt sie nicht los, auch das Baby im Pappkarton sieht sie vor sich. Wie sollte es dankbar sein, wenn es nie so etwas wie Grundvertrauen kennengelernt hat, woher sollte Falks Vertrauen in sie kommen, wenn seine Eltern nichts davon in seiner Seele verwurzelt haben?
Sie setzt sich auf den Schreibtischstuhl, um klare Gedanken zu fassen. Eingesperrt sein, das kennt Falk also auch. Die Angst, die man dabei fühlt, die Bedrohung, wenn niemand kommt und einen befreit. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er so klammert, alles kontrollieren will, Panik bei dem Gedanken bekommt, er könnte verlassen werden.
Ich habe so vieles versucht, denkt Luna. Mit ihm zu reden, Verständnis zu zeigen. Lieber sperrt er mich ein, als sich mir anzuvertrauen.
Sie weiß nicht, wie lange sie dort gesessen hat. Jedes Gefühl für die Zeit scheint ihr verloren gegangen zu sein. Dass sie bereits wieder mehrere Stunden gefangen ist, merkt sie am Hunger und am Durst; auch der Drang, zur Toilette zu gehen, meldet sich erneut. Um sich abzulenken, steht sie wieder auf, versucht, ganz unten am Schrank eine Schublade zu öffnen, die sich über die gesamte Breite des Möbelstücks erstreckt, es gelingt ihr nicht gleich, das dunkle Holz hat sich verzogen und klemmt. Sie zerrt und ruckt an dem schmiedeeisernen Griff, endlich schafft sie
es doch, durch einen Spalt späht sie vorsichtig hinein, noch immer respektvoll, noch immer mit Schuldgefühlen und der Angst, beobachtet zu werden. Viel kann sie auf den ersten Blick nicht sehen, einige schwarze Kabel und Stecker, offenbar bewahrt Falk hier Elektrogeräte auf, ausrangierte vielleicht, doch noch funktionstüchtig, zu schade, um sie zu entsorgen. Vielleicht ist ein Radio dabei oder ein MP3-Spieler, mit dem Luna sich etwas die Zeit vertreiben kann. Noch einmal zieht sie am Griff, dann hat sie die Schublade auf und findet tatsächlich ein Mini-Radio mit Kopfhörern, sie selbst hat einmal so eines besessen, es hatte als kostenlose Beilage in einer Frauenzeitschrift gelegen, nichts Hochwertiges also. Luna nimmt es heraus, steckt sich einen der Ohrhörer an und drückt die Abspieltaste, das Radio bleibt jedoch stumm. Vielleicht sind noch Batterien da oder ein anderes Gerät, doch viel Hoffnung hat sie nicht. Sie versucht, beim Wühlen keine lauten Geräusche zu machen, schleicht ab und an zur Tür, um nach Falk zu lauschen, setzt sich im Schneidersitz auf den Fußboden, wühlt erneut in der Schublade. Findet einen alten Discman, drei verstaubte Fernbedienungen, eine billige Kamera ohne Display, ein Handy.
Ein Handy. Vielleicht geht es noch. Sie kann Jaron anrufen, gut, dass sie die Nummer gestern im Auto auswendig gelernt hat, anstatt sie in ihrem Handy einzuspeichern. Danach das Protokoll löschen, sofort.
Luna zerrt die verschiedenen Kabel hinaus, die in der Schublade liegen, ineinander verworren und verschlungen, versucht, sich zu fangen, beim Entwirren darf sie nicht nervös sein, muss planvoll vorgehen. Wenig später hält sie das Ladekabel des alten
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