Dornenliebe
Mobiltelefons in der Hand, der Anschluss passt in das Gerät, Luna zieht den Stecker der Schreibtischlampe aus der Steckdose und
steckt den des Handys hinein, wartet ab, das Telefon mit ihrem Blick fixierend. Einige Sekunden lang geschieht nichts, schon will sie es wieder ausstöpseln und in die Schublade zurücklegen, da leuchtet doch noch das Display auf, das Symbol einer durchlaufenden Sanduhr dreht sich um seine eigene Achse. Die PIN, denkt sie; ohne die PIN kann ich das Gerät nicht benutzen, doch dann ist sie plötzlich im Mobilfunknetz, die Pinabfrage scheint deaktiviert zu sein, Luna erkennt das Firmenlogo eines preiswerten Drittanbieters für Prepaidkarten. Vielleicht stammt das Telefon noch aus Falks Ausbildungszeiten, auch er, das weiß sie jetzt, hat sich nicht immer alles leisten können.
Jaron anrufen, damit er kommt und sie hier herausholt. Vielleicht ist noch etwas Guthaben auf der Karte drauf, heutzutage verfällt es nicht mehr, auch wenn es lange nicht angetastet wurde. Lunas Daumen rutschen immer wieder ab, als sie die Zahlenfolge von Jarons Handynummer in die Tastatur tippen will, ungeduldig wischt sie ihre feuchten Handflächen am Ärmel ihres Pullovers ab. Die letzten beiden Ziffern sind die 0 und die 5, denkt sie. Ganz ruhig. Oder war es doch die 50? Gestern noch konnte sie die gesamte Nummer fehlerlos aufsagen, jetzt will sie ihr nicht mit hundertprozentiger Sicherheit einfallen.
Ruhig bleiben. Überlegen, was sie Jaron überhaupt sagen will. Sie schafft es nicht, die richtige Nummer scheint wie weggefegt zu sein, Luna muss warten, bis sie ihr wieder in den Sinn kommt, bis dahin etwas anderes tun, sie darf sich nicht verrückt machen. Sie muss überlegen, wie Jaron ihr helfen kann, sich zu befreien, immerhin sind unter ihr noch vier Stockwerke und Falk kann jederzeit kommen. Sie versucht, zu einem ruhigen, gleichmäßigen Atem zurückzufinden, und drückt auf der Tastatur herum,
diese Tätigkeit ist ihr vertraut und beruhigt sie, hier kennt sie sich aus, das Telefon entstammt derselben Marke wie ihr eigenes, ist nur ein anderes, älteres Modell, aber die Tastenbelegung ist fast dieselbe. Mit der Menütaste gelangt sie zu den Mitteilungen, vielleicht sind noch Kurznachrichten gespeichert. Luna scrollt zu den empfangenen Mitteilungen, öffnet die letzte und hält den Atem an.
ICH SEHE DICH , liest sie. Schleudert das Telefon weg wie eine auf ihre Hand gekrabbelte Spinne, erstarrt, blickt sich um, hat das Gefühl, ihre Halsschlagader drohe zu reißen, so heftig geht ihr Puls darin. Falk. Er beobachtet sie auch jetzt, sieht Luna in jeder Sekunde, vielleicht hat er Kameras installiert, Wanzen, vielleicht beobachtet er sie vom Fenster in einer der Wohnungen auf der anderen Straßenseite aus. Sieht, wie sie hier seine Sachen durchwühlt, darauf wartet, befreit zu werden. Es kann nicht sein, Falk ist doch bei der Arbeit, vielleicht auch bei seiner Weiterbildung zum Immobiliengutachter oder bei einem Banktermin, Luna schwirrt der Kopf, sie will weg hier, weg, aber wo könnte sie hin, wenn Falk überall ist, jeden einzelnen ihrer Schritte genau kennt, sie verfolgt, wo immer sie sich aufhält. Sie kann nicht fliehen.
Ihre Blase drückt jetzt noch mehr, sicherlich hat die Aufregung das verstärkt. Luna steht auf, wandert im Zimmer umher, springt auf und ab, versucht ein paar Atemübungen, die sie im Sportunterricht am Gymnasium gelernt hat, viel bringt es nicht und kann nur ein Aufschub sein. Ihr Blick kehrt wie von selbst immer wieder zum Handy zurück, Jarons Worte fallen ihr wieder ein, die er neulich an der Uni zu ihr gesagt hat. Du sitzt neben mir wie ein Abbild von Teresa, kurz bevor sie starb. Du bist in Gefahr, Luna.
Teresa. Vielleicht hat die SMS gar nicht mir gegolten, denkt sie; ich habe nicht einmal das Datum registriert, an dem sie gesendet wurde. Sie nimmt das Telefon wieder
auf, mit wild klopfendem Herzen blickt sie noch einmal auf das Display, auf dem die Nachricht noch immer geöffnet ist. Sie ist im Dezember vor zwei Jahren verschickt worden, auf die Jahreszahl hatte Luna nicht geachtet, deshalb hat sie sie für eine an sie selbst gerichtete SMS gehalten. Falk hat an seine Exfreundin die gleiche Art von Nachrichten geschickt wie an sie, jedes Wort wiederholt ihre Geschichte, auf einmal ist es Luna, als wäre Teresa hier, genau wie Falk, beide sind in ihrer Nähe, greifen nach ihr, flüsternd, unheimlich. Ich will hier weg, denkt sie; raus hier, zurück in mein normales Leben, zur
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