Dornenschwestern (German Edition)
muss das Gefühl haben, dass der Frieden und die Eleganz, um die sie sich bemüht hat, sich in Luft auflösen und man ihr auf die Schliche gekommen ist; als käme ihre wahre Natur zum Vorschein, als dringe der schuppige Fischkopf durch ihre Haut.
Es ist ein warmer Mainachmittag. Ich bin in prächtige rote Seide gekleidet, und mein Pferd hat einen Sattel aus rotem Leder und rotes Lederzaumzeug. Richard trägt ein neues Wams aus schwarzem Samt, gefüttert mit besticktem weißen Leinen.
Wir gehen zum Abendessen, doch ich habe bereits gespeist. Ich esse nichts mehr, was aus der Küche der Königin kommt, und wenn sie zu mir herüberschaut, sieht sie, wie meine Gabel über dem Essen schwebt, wie ich Brot zerkrümele, die Soße mit einem Löffel verteile und den Teller dann zur Seite schiebe. Ich tue, als würde ich essen, und sie gibt vor, nicht zu bemerken, dass ich in Wirklichkeit nichts zu mir nehme. Sie weiß, dass ich davon ausgehe, dass sie mich vergiften wird. Aber sie weiß auch, dass ich nicht wie George oder wie meine Schwester bin. Ich habe nicht den Mut, sie öffentlich herauszufordern. Mein Gemahl ist fest entschlossen, ihr freundlich gesinnt zu sein. Ich bin für sie eine leichte Beute.
«Einer Kriegserklärung?», frage ich. «Warum?»
«George sagt offen, Edward sei nicht der leibliche Sohn und Erbe unseres Vaters. Er erzählt jedem, Edwards Ehe sei durch Hexenwerk herbeigeführt worden und seine Söhne seien Bastarde. Edward habe verhindert, dass er Maria von Burgund heiratet, weil er fürchte, George werde mit ihren Streitkräften Anspruch auf den Thron von England erheben. Dann würden viele aufstehen, um ihn zu unterstützen, er werde mehr geliebt als der König. Er wiederholt offen, was er bisher nur hinter vorgehaltener Hand gesagt hat. Dies kann man als Kriegserklärung betrachten. Edward muss ihn zum Schweigen bringen.»
Wir reiten in den Palasthof, der Herold kündet uns an, und die Trompeten erschallen als Willkommensgruß. Die Standartenträger senken die Banner. Zwei livrierte Diener helfen mir aus dem Sattel. Richard wartet an der Tür auf mich.
«Wie kann der König seinen Bruder zum Schweigen bringen?», will ich wissen. «Halb London behauptet inzwischen dasselbe. Wie kann Edward sie alle zum Schweigen bringen?»
Richard legt meine Hand auf seinen Arm und lächelt die Leute an, die sich in der Galerie zum Stallhof drängen. «Edward sieht sich dazu genötigt. Er wird ihn ein letztes Mal warnen und ihn dann des Hochverrats bezichtigen.»
Auf Hochverrat steht die Todesstrafe. Edward, der König, wird seinen eigenen Bruder töten. Ich verharre schockiert, mir ist schwindlig. Richard nimmt meine Hand. Wir bleiben einen Augenblick stehen, die Hände verschränkt, als wollten wir uns in dieser veränderten, schrecklichen Welt aneinanderklammern. Wir bemerken die vorbeieilenden Diener und Höflinge nicht. Richard sieht mir in die Augen, und wieder sind wir die Kinder von damals, die ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen mussten in einer Welt, die sie nicht verstanden.
«Die Königin hat zu Edward gesagt, solange George auf freiem Fuß sei, fühle sie sich im rituellen Rückzug vor der Geburt nicht sicher. Sie verlangt, ihn um ihrer Sicherheit willen zu verhaften: entweder das Leben ihres Kindes oder das seines Bruders, und Edward muss sie zufriedenstellen.»
«Tyrannei!», gebe ich flüsternd zurück, und diesmal verteidigt Richard seinen Bruder nicht. Sein Gesicht hat sich vor Sorge verfinstert.
«Weiß Gott, wohin das führt, in was für eine Situation die Königin uns gebracht hat. Wir sind die Söhne Yorks, Edward hat unsere drei Sonnen am Himmel gesehen. Wie können wir zulassen, dass eine Frau uns entzweit?»
Wir betreten die große Halle des Westminster Palace, und Richard hebt die Hand zum Dank, als die Menschen auf der Galerie ihm zujubeln und sich verneigen.
«Wirst du etwas essen?», fragt er leise.
Ich schüttele den Kopf.
«Ich auch nicht», sagt er mit einem Seufzer. «Nicht mehr.»
Middleham Castle, Yorkshire
Sommer 1477
A ls Richard und ich London verlassen, ist Georges Schicksal noch nicht entschieden. Fast könnte man sagen, wir fliehen aus London – aus der Stadt, in der die Gerüchteküche brodelt und Verdächtigungen die Runde machen. Wir reiten nach Norden, nach Hause, wo die Luft sauber ist und die Menschen ehrlich sind und nicht an ihren Vorteil denken, wo der weite nördliche Himmel sich über die grünen Hügel wölbt und wir in Frieden leben
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