Dornenschwestern (German Edition)
Er hat sich entschieden.»
«Aber seine Kinder!», rufe ich aus und denke an die kleine Margaret und an Edward. «Wer wird sich um sie kümmern, wenn ihr Vater im Exil ist?»
«Sie wären Waisen», sagt Richard grimmig. «Wir müssen an Weihnachten an den Hof, um sie ebenso zu verteidigen wie George.» Er zögert. «Abgesehen davon muss ich George sehen, ich muss zu ihm halten. Ich will ihn nicht allein lassen. Er ist einsam im Tower, niemand wagt es, ihn zu besuchen, und er hat Angst und weiß nicht, was mit ihm geschieht. Ich bin überzeugt, dass sie Edward niemals überreden kann, seinem Bruder etwas anzutun, doch ich fürchte …» Er unterbricht sich.
«Du fürchtest was?», flüstere ich, obwohl wir hinter den dicken Mauern von Middleham Castle sicher sind.
Er zuckt die Achseln. «Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, ich bin ängstlich wie ein Weib und so abergläubisch wie George mit seinem Gerede von schwarzer Kunst und Hexerei. Aber … ich habe Angst um George.»
«Was fürchtest du?», frage ich noch einmal.
Richard schüttelt den Kopf, er bringt es kaum über sich, seine Ängste in Worte zu fassen. «Einen Unfall? Krankheit? Dass er etwas Verdorbenes isst? Dass er zu viel trinkt? Ich will gar nicht darüber nachdenken. Womöglich schürt sie seine Trauer und seine Ängste, bis er sich eines Tages danach sehnt, seinem Leben ein Ende zu bereiten, und jemand bringt ihm ein Messer.»
Ich bin entsetzt. «Niemals würde er sich etwas antun. Das ist eine schwere Sünde …»
«Er ist nicht mehr er selbst», erklärt Richard traurig. «Sein Selbstbewusstsein, sein Charme – du weißt, wie er war –, davon ist nichts mehr übrig. Ich fürchte, sie bereitet ihm Albträume, sie raubt ihm nach und nach seinen Mut. Er sagt, er schrecke nachts aus dem Schlaf hoch und könne sehen, wie sie sein Schlafgemach verlässt. Sie komme in der Nacht zu ihm und gieße ihm Eiswasser ins Herz. Er hat Schmerzen, die kein Arzt heilen kann, in seinem Herzen, unter den Rippen, in seinem Bauch.»
Ich schüttele den Kopf. «So etwas ist unmöglich», bleibe ich hartnäckig. «Sie kann nicht derart auf ihn einwirken. George trauert, genau wie ich, und er ist eingesperrt, das reicht aus, um jedem Mann Angst einzuflößen.»
«Jedenfalls muss ich zu ihm.»
«Ich möchte Edward nicht allein lassen», sage ich.
«Ich weiß. Aber er verlebt hier eine sehr schöne Kindheit, besser kann es ein Junge nicht haben. Auch ich hatte eine behütete Kindheit. Er wird nicht einsam sein, er hat seinen Lehrer und seine Obersthofmeisterin. Ich weiß, dass er dich vermisst und dich liebt, aber es ist besser für ihn, wenn er hierbleibt.» Er zögert wieder. «Anne, du musst einverstanden sein: Ich will ihn nicht am Hof …»
Mehr muss er nicht sagen. Allein bei dem Gedanken, dass die Königin ihren kalten Blick auf meinen Jungen richtet, läuft mir ein Schauer über den Rücken.
«Nein, nein», entgegne ich hastig, «wir nehmen ihn auf keinen Fall mit nach London.»
Westminster Palace, London
Weihnachten 1477
W eihnachten wird so prächtig gefeiert wie immer. Die Königin frohlockt, sie hat ein gesundes Kind zur Welt gebracht, das zusammen mit der Amme am Fest teilnimmt. Ihr neuer Sohn wird dem Hof vorgeführt; fast bekomme ich einen bitteren Geschmack im Mund, wenn ich sehe, wie der Junge auf Schritt und Tritt hinter ihr und ihren sechs anderen Kindern hergetragen wird.
«Sie nennt ihn George», erklärt Richard mir.
Ich schnappe nach Luft. «George? Bist du dir sicher?»
«Ja», antwortet er mit grimmiger Miene. «Sie hat es mir selbst gesagt und dabei gelächelt, als sollte ich mich freuen.»
Diese Hintertriebenheit widert mich an. Sie hat den Onkel dieses unschuldigen Kindes verhaften lassen, weil er schlecht über sie gesprochen hat, und ihm mit einer Anklage gedroht, die mit dem Tod bestraft wird, und sie nennt ihren Sohn nach ihm? Das ist niederträchtig und irrwitzig.
«Es hätte kaum schlimmer kommen können», bemerkt Richard.
«Doch, wenn sie George durch einen anderen ersetzen würde», wispere ich und wende mich ab, als ich seine bestürzte Miene sehe.
All ihre Kinder sind zum Weihnachtsfest am Hof versammelt. Wo sie geht und steht, prahlt sie mit ihnen, und sie folgen ihr auf Schritt und Tritt. Die älteste Tochter, Prinzessin Elizabeth, reicht mit ihren elf Jahren ihrer Mutter bis an die Schulter. Sie ist großgewachsen und schlank wie eine gelbe Narzisse, wird am Hof sehr geschätzt und ist die Lieblingstochter
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