Dornenschwestern (German Edition)
mein Gemahl will seine Nichte auf den Abendspaziergängen am Fluss verführen und hat alles vergessen, was er seinem Namen schuldig ist, sein Ehegelöbnis, den Respekt, den er mir als seiner Gemahlin und trauernden Mutter seines toten Sohnes entgegenbringen sollte?
Womöglich bemerkt der Hof viel deutlicher als ich, dass Richard seine Trauer, seinen Kummer überwunden hat, dass er wieder leben und atmen kann, dass er die Welt wieder wahrnimmt – dass er in dieser Welt ein hübsches Mädchen sieht, das nur allzu bereit ist, seine Hand zu nehmen und seinen Worten zu lauschen und zu lachen, als sei sie entzückt. Glaubt der Hof, Richard würde mit der Tochter seines Bruders schlafen? Glauben sie wirklich, Richard sei so weit gesunken, seine Nichte zu entjungfern?
Ich nähere mich diesem Gedanken, flüstere die Worte «entjungfern» und «Nichte», aber ich bringe es nicht fertig, mich darüber aufzuregen, genauso wenig, wie mir etwas an dem morgigen Jagdausflug liegt oder an den Speisen für das Abendessen heute.
Auch Elizabeths Jungfräulichkeit und Glück sind für mich nicht von Interesse. Alles scheint weit weg, als geschähe es einer anderen. Ich würde mich nicht unglücklich nennen, das Wort kommt meinem Zustand nicht im Entferntesten nahe; ich würde mich als tot, als aus der Welt gefallen bezeichnen. Es schert mich nicht, ob Richard seine Nichte verführt oder sie ihn. Doch ich weiß, dass Elizabeth Woodville, nachdem sie mir durch einen Fluch meinen Sohn genommen hat, mir jetzt auch den Gemahl stiehlt. Aber ich kann es nicht verhindern. Sie tut – wie immer –, was sie will. Mir bleibt nur, die heiße Stirn an das kalte Glas zu lehnen und mir zu wünschen, ich würde es nicht bemerken. Und auch sonst nichts.
Der Hof hat auch noch anderes zu tun, als sich mit der Heuchelei ihres Techtelmechtels mit dem König zu befassen und mit mir zu trauern. Die Vormittage verbringt Richard mit seinen Beratern. Er ernennt Bevollmächtigte, um die Grafschaften in Alarmbereitschaft zu versetzen, falls Henry Tudor aus der Bretagne einfällt. Die Flotte bereitet er auf einen Krieg mit Schottland vor, und er plündert französische Schiffe im Ärmelkanal.
Er spricht mit mir über alles, und manchmal kann ich ihm sogar einen Rat geben, schließlich bin ich in Calais aufgewachsen, und Richard setzt die Friedenspolitik meines Vaters mit Schottland und seinen bewaffneten Frieden gegen die Franzosen fort.
Im Juli reist er nach York, um den Council of the North zu gründen, und unterstreicht damit, dass der Norden Englands ein in vielerlei Hinsicht anderes Land ist als der Süden und dass Richard ein guter Herrscher ist und sein wird. Bevor er aufbricht, kommt er in mein Gemach und schickt meine Hofdamen nach draußen. Elizabeth wirft ihm beim Hinausgehen ein Lächeln zu, das er diesmal jedoch nicht bemerkt. Er zieht sich einen Schemel heran und setzt sich zu meinen Füßen.
«Was ist?», frage ich teilnahmslos.
«Ich möchte mit dir über deine Mutter sprechen», sagt er.
Ich bin überrascht, doch nichts kann mein Interesse wecken. Ich beende die Näharbeit, steche die Nadel in den Seidenstoff und lege sie zur Seite. «Ja?»
«Ich denke, wir können sie aus unserer Obhut entlassen. Wir gehen nicht nach Middleham zurück …»
«Nein, niemals», erwidere ich rasch.
«Dann könnten wir das Anwesen aufgeben. Sie bekommt ein Haus, und wir gewähren ihr eine Art Rente. Wir müssen nicht eine ganze Burg unterhalten, um sie zu beherbergen.»
«Meinst du nicht, sie würde das Wort gegen uns erheben?» Niemals werde ich ihn auf unsere Eheschließung ansprechen. Er kann mir, genau wie damals, vertrauen. Es ist mir gleichgültig.
Er zuckt die Achseln. «Wir sind König und Königin von England. Es gibt Gesetze, die verbieten, uns zu verleumden. Sie weiß das.»
«Und du fürchtest nicht, sie könnte versuchen, ihre Besitzungen zurückzubekommen?»
Er lächelt. «Ich bin König von England, sie wird kaum einen Prozess gegen mich gewinnen. Und wenn sie einige Güter zurückbekäme, könnte ich es mir leisten, sie zu verlieren. Du bekommst sie wieder, wenn sie stirbt.»
Ich nicke. Außerdem gibt es jetzt niemanden mehr, der mich beerben könnte.
«Ich wollte mich nur vergewissern, dass du nichts dagegen hast, sie freizulassen. Willst du bestimmen, wo sie leben soll?»
Ich zucke die Achseln. Den Winter über waren sie zu viert in Middleham: Margaret und ihr Bruder Teddy, mein Sohn Edward und sie – meine Mutter, ihre
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