Dornenschwestern (German Edition)
Großmutter. Wie ist es möglich, dass der Tod ihren Enkelsohn genommen hat und nicht sie?
«Ich habe einen Sohn verloren», sage ich, «was kümmert mich da meine Mutter?»
Er wendet den Kopf ab, damit ich sein schmerzverzerrtes Gesicht nicht sehe. «Ich weiß. Die Wege des Herrn sind unergründlich.»
Er erhebt sich und streckt die Hand nach mir aus. Ich stehe auf und streiche mein erlesenes Seidenkleid glatt.
«Das ist eine hübsche Farbe», sagt er. «Hast du noch mehr von dieser Seide?»
«Ich glaube schon», antworte ich überrascht. «Ich denke, sie haben einen ganzen Ballen in Frankreich gekauft. Möchtest du eine Jacke?»
«Sie würde unserer Nichte Elizabeth gut stehen», sagt er leichthin.
«Was?»
Er lächelt angesichts meiner fassungslosen Miene. «Sie würde gut zu Elizabeths Haut-und Haarfarbe passen, findest du nicht?»
«Du willst, dass sie ein ähnliches Kleid trägt wie ich?»
«Warum nicht … wenn du auch der Meinung bist, dass ihr die Farbe gut steht.»
Diese lächerliche Vorstellung reißt mich aus meiner Lethargie. «Was denkst du dir dabei? Wenn du sie in solche kostbaren Stoffe kleidest, wird der ganze Hof denken, sie wäre deine Geliebte. Man wird noch Schlimmeres sagen. Sie werden sie deine Hure nennen. Und dich einen Wüstling.»
Er nickt, ungerührt von meinen Worten. «Ganz recht.»
«Willst du das? Willst du Schande über sie bringen, Schande über dich und mich?»
Er nimmt meine Hand.
«Anne, meine liebste Anne. Wir sind jetzt König und Königin, wir dürfen uns nicht von persönlichen Vorlieben leiten lassen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir unablässig unter Beobachtung stehen, dass unsere Handlungen eine Bedeutung haben, die die Menschen zu entschlüsseln suchen. Wir müssen Theater spielen.»
«Das verstehe ich nicht», sage ich kategorisch. «Was spielen wir denn?»
«Ist das Mädchen nicht angeblich verlobt?»
«Ja, mit Henry Tudor. Du weißt so gut wie ich, dass er die Verlobung letztes Jahr an Weihnachten öffentlich erklärt hat.»
«Und wer steht als Narr da, wenn alle Welt glaubt, sie wäre meine Geliebte?»
Allmählich dämmert es mir. «Na, er.»
«Diejenigen, die diesen unbekannten Waliser, Margaret Beauforts in Wales geborenen Jungen, unterstützen, weil er mit Prinzessin Elizabeth verlobt ist – der geliebten Tochter des mächtigsten Königs von England –, werden noch einmal ins Grübeln kommen. Sie werden sagen, wenn wir uns wegen Tudor zusammenschließen, bringen wir nicht die Prinzessin of York auf den Thron. Denn die Prinzessin von York ist am Hof ihres Onkels, sie bewundert ihn und unterstützt ihn, sie ist eine Zierde für seinen Hof, so wie sie eine Zierde für den Hof ihres Vaters war.»
«Doch einige werden sagen, dass sie kaum besser ist als eine Hure. Es wird Schande über sie bringen.»
Er zuckt die Achseln. «Das haben sie auch über ihre Mutter gesagt. Außerdem hätte ich nicht gedacht, dass es dir etwas ausmacht.»
Er hat recht. Es macht mir nichts aus, wenn ein Rivers-Mädchen gedemütigt wird.
Westminster Palace, London
Winter 1484
D ie Bedrohung durch Henry Tudor in der Bretagne beschäftigt den ganzen Hof. Er ist nur ein junger Mann, und jeder andere König hätte seinem entfernten Anspruch auf den Thron von England über die Linie seiner Mutter keine Beachtung geschenkt. Doch auf dem Thron sitzt ein König aus dem Hause York, und Richard weiß, dass Tudor eine Invasion plant und den Herzog in der Bretagne, der ihn so lange beschützt hat, um Unterstützung gebeten und sich hilfesuchend an Frankreich gewandt hat, den alten Erzfeind Englands.
Seine Mutter, Margaret Beaufort, meine einstige Freundin, schmollt in ihrem Haus auf dem Land, wo sie auf Richards Befehl hin von ihrem Gemahl festgehalten wird, während Tudors zukünftige Braut, Elizabeth of York, inzwischen so gut wie die erste Lady am Hofe, jede Nacht in dem Palast tanzt, in dem sie aufgewachsen ist. Ihre Armbänder blitzen auf, und sie trägt die Haare unter einem golden funkelnden Netz. Es scheint, als bekäme sie jeden Tag, wenn wir in den Gemächern sitzen, die den grauen, winterlichen Fluss überblicken, Geschenke. Jeden Morgen klopft es an der Tür, und ein Page bringt etwas für das Mädchen, das alle jetzt Prinzessin Elizabeth nennen, als hätte Richard kein Gesetz erwirkt, das sie einen Bastard nennt und ihr den Namen des ersten Gemahls ihrer Mutter gibt. Sie kichert, wenn sie die Geschenke öffnet, und wirft mir einen raschen, schuldbewussten
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