Dornenschwestern (German Edition)
wieder aus der Kabine. Inzwischen fällt beständig schwerer Regen aus einem dunklen Himmel, und der starke Wellengang trägt uns trotz Gegenwind vorwärts. Vater ist mit dem Steuermann und dem Kapitän auf Deck.
«Meine werte Mutter lässt fragen, wann wir Calais erreichen», sage ich.
Er betrachtet mich von oben bis unten und ist schockiert über meinen Anblick. Ich trage keinen Kopfschmuck, und mein Haar hat sich gelöst, meine Kleider sind zerrissen und voller Blutflecken, und ich bin nass bis auf die Knochen und barfuß.
Zudem hat mich eine wilde Verzweiflung gepackt: Ich war die ganze Nacht wach, man hat mich gewarnt, meine Schwester könnte sterben. Ich konnte nichts für sie tun, als durch das Wasser zur Kombüse zu waten, um ihr einen Holzlöffel zu holen, auf den sie in ihrer Qual beißen kann.
«In ein oder zwei Stunden», erwidert er. «Nicht mehr lange. Wie geht es Isabel?»
«Sie braucht eine Hebamme.»
«In ein oder zwei Stunden bekommt sie eine.» Er lächelt warm. «Sag ihr das von mir. Ich gebe ihr mein Wort. Ihr Abendessen kann sie zu Hause in unserer Burg zu sich nehmen. Für ihren Rückzug bekommt sie die besten Ärzte Frankreichs.»
Seine Worte muntern mich auf, und ich erwidere sein Lächeln.
«Mach dich frisch», sagt er kurz. «Du bist die Schwester der Königin von England. Zieh Schuhe an und ein anderes Kleid.» Ich verneige mich und eile zurück in die Kabine.
Wir warten. Es werden zwei sehr lange Stunden. Ich schüttele mein Kleid aus, denn zum Wechseln habe ich nichts, doch ich flechte mir die Haare und setze meinen Kopfschmuck auf. Im Bett stöhnt Isabel, wenn die Schmerzen sie aus dem Schlaf reißen. Dann höre ich den Ausgucker rufen: «Land in Sicht! An Steuerbord! Calais!»
Ich springe vom Stuhl auf und sehe aus dem Fenster, wo ich die vertraute Silhouette der hohen Mauern der Stadt erkennen kann, das gewölbte Dach der Staple Hall und den Turm der Kathedrale, oben auf dem Hügel die Burg, die Zinnen und unsere Fenster, in denen Licht brennt. Ich schirme die Augen gegen den dichten Regen ab und kann mein Schlafzimmerfenster ausmachen. Die Läden sind offen, und im Fenster steht eine Kerze, um mich zu begrüßen. Ich kann mein Zuhause sehen. Jetzt sind wir in Sicherheit. Wir sind zu Hause. Eine ungeheure Erleichterung überkommt mich, ich merke, dass meine Schultern leichter werden, als hätte ich sie gegen das Gewicht der Angst hochgezogen. Wir sind zu Hause, und Isabel ist in Sicherheit.
Ein Schleifen und ein schreckliches Rasseln dringen an mein Ohr. Ich schaue zu den Mauern der Burg, wo Dutzende von Männern eine große Winsch betätigen, deren Zahnräder sich unter Klirren und Kreischen langsam drehen. Vor uns an der Hafenmündung taucht plötzlich aus dem Wasser eine Kette auf, an der Seetang aus den tiefsten Tiefen des Meeres hängt. Langsam kommt sie hoch und versperrt uns den Weg.
«Schnell!», schreie ich, als könnten wir mit volleren Segeln noch über die Kette gelangen, bevor sie zu hoch ist. Doch wir brauchen uns nicht wegen der Absperrung zu beeilen. Sobald sie uns erkennen, werden sie die Kette absenken, sobald sie die Warwick-Standarte mit dem abgeästeten Baumstamm erblicken, werden sie uns einlassen. Vater ist der beliebteste Befehlshaber, den Calais je hatte. Calais ist seine Stadt, keine Stadt, die York oder Lancaster unterstützt, sondern ihm allein treu. Dies ist der Ort meiner Kindheit. Ich schaue wieder hinauf zu der Burg und entdecke, dass die Kanonenlöcher direkt unter meinem Schlafzimmerfenster bemannt sind und Kanonen herausrollen, eine nach der anderen, als bereitete sich die Burg auf einen Angriff vor.
Es ist ein Missverständnis, sage ich mir. Sie müssen uns mit König Edwards Schiff verwechselt haben. Aber als ich den Blick weiter nach oben richte, erkenne ich, dass über den Zinnen nicht Vaters Standarte mit dem abgeästeten Baumstamm flattert, sondern die weiße Rose von York und die königliche Standarte. Calais ist Edward und dem Hause York treu geblieben, obwohl wir die Seiten gewechselt haben. Vater hat erklärt, Calais sei für York, und es ist York treu geblieben. Calais wechselt nicht mit den Gezeiten die Seiten. Es ist treu, wie wir einst, doch wir sind jetzt der Feind.
Rechtzeitig begreift der Steuermann die drohende Gefahr und ruft eine Warnung, während der Kapitän hinunterspringt, um den Matrosen brüllend Befehle zu erteilen. Vater stürzt sich auf das Steuerrad und hilft dem Steuermann, es herumzuwerfen, damit das
Weitere Kostenlose Bücher