Dornenschwestern (German Edition)
und entsetzt mich, dass sie sich abmüht wie eine fette Stute, sich quält wie eine Hure und mich zwingt, so etwas zu tun. Ich verziehe das Gesicht, und den Kopf habe ich abgewandt. Ich stehe so weit wie möglich vom Bett weg, so weit wie möglich entfernt von ihr, von meiner Schwester, diesem Ungeheuer. Ich berühre sie ohne Mitgefühl und halte das Bein fest, wie man mir befiehlt, trotz meines Widerwillens.
«Kriegst du die andere Hand rein?»
Ich sehe meine Mutter an, als wäre sie verrückt geworden. Das ist unmöglich.
«Schau, ob du die andere Hand reinkriegst und das Kind zu fassen bekommst.»
Ich hatte schon vergessen, dass es um ein Kind geht, so schockiert bin ich über den entsetzlichen Gestank und das Gefühl des glitschigen kleinen Beins in meiner Hand. Behutsam versuche ich, die andere Hand hineinzuschieben. Etwas gibt nach, und meine Fingerspitzen berühren etwas, was ein Arm sein könnte oder eine Schulter.
«Ein Arm?» Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht zu würgen.
«Schieb ihn weg, taste weiter, bis du das andere Bein findest.» Meine Mutter ringt verzweifelt die Hände. Dann tätschelt sie Isabel den Rücken wie einem kranken Hund.
«Ich habe das andere Bein», sage ich.
«Wenn ich es dir sage, musst du an beiden Beinen ziehen», weist sie mich an, tritt zur Seite und nimmt Isabels Kopf in die Hände. «Wenn du merkst, dass die Wehe kommt, musst du pressen», sagt sie zu ihr. «Press mit aller Macht.»
«Ich kann nicht», schluchzt Isabel. «Ich kann nicht, Mutter. Ich kann nicht.»
«Du musst. Sag mir, wenn die Wehe kommt.»
Nach einer Pause gewinnt Isabels Stöhnen an Kraft, und sie schreit: «Jetzt, jetzt.»
«Press!», sagt meine Mutter. Die Hofdamen packen ihre geballten Fäuste und ziehen an ihren Armen, als wollten sie sie auseinanderreißen. Margaret schiebt ihr den Holzlöffel zwischen die Zähne, und Isabel heult und beißt darauf. «Zieh an dem Kind», ruft meine Mutter mir zu. «Jetzt. Gleichmäßig. Zieh.»
Ich ziehe, wie mir befohlen, und mit Entsetzen spüre ich, dass etwas knackt und unter meinen Händen nachgibt.
«Nein! Es ist kaputt, kaputt!»
«Zieh. Zieh trotzdem!»
Ich ziehe, und mir kommt ein Schwall Blut entgegen, stinkende Flüssigkeit und zwei kleine Beine, die aus Isabel baumeln, während sie schreit und keucht.
«Noch einmal», sagt Mutter. Sie klingt seltsam triumphierend, doch ich bin vollkommen entsetzt. «Gleich haben wir es geschafft. Einmal noch, Isabel. Wenn die nächste Wehe kommt.»
Isabel stöhnt und bäumt sich auf.
«Zieh, Anne!», befiehlt Mutter, und ich packe die kleinen glitschigen Beine und ziehe noch einmal, und einen Augenblick lang rührt sich nichts, und dann kommt plötzlich eine Schulter zum Vorschein und dann noch eine.
Und Isabel kreischt, als der Kopf herauskommt. Ihre Haut reißt wie karmesinroter und blauer Brokat, rotes Blut und blaue Adern platzen auf, als der Kopf und die glitschige Nabelschnur herauskommen. Ich lasse das Kind auf das Bettzeug fallen, wende den Kopf ab und übergebe mich auf den Fußboden.
Das Schiff hebt sich, und wir taumeln. Mutter hangelt sich mit beiden Händen am Bett entlang und nimmt das Neugeborene behutsam hoch und wickelt es in Tücher. Zitternd wische ich mir mit ein paar Lappen die blutigen Hände und Arme ab und das Erbrochene vom Mund, während ich darauf warte, dass jemand uns sagt, dass ein Wunder geschehen ist. Ich warte auf den ersten wunderbaren kleinen Schrei.
Stille.
Isabel stöhnt leise. Sie blutet, doch niemand stillt ihre Blutung. Meine Mutter hat das Kind warm eingewickelt. Eine der Frauen blickt lächelnd auf, das Gesicht von Tränen befleckt. Wir warten alle auf den ersten zaghaften Schrei, wir warten auf das Lächeln der Mutter, deren Gesicht grau und erschöpft ist.
«Es ist ein Junge», sagt sie harsch – die Worte, die wir alle hören wollen. Doch seltsamerweise ist keine Freude in ihrer Stimme, und sie hat einen grimmigen Zug um den Mund.
«Ein Junge?», wiederhole ich voller Hoffnung.
«Ja, es ist ein Junge. Er ist tot.»
Auf der Seine, Frankreich
Mai 1470
D ie Matrosen nehmen die Segel herunter und bringen sie auf Handwagen zum Segelmacher, damit sie repariert werden, und putzen die königliche Kabine, deren Dielen von Isabels Blut und meinem Erbrochenen befleckt sind. Sie sagen, es ist ein Wunder, dass wir nicht alle zusammen in dem Gewitter umgekommen sind. Sie sagen, wie entsetzt sie waren, als die Kette in der Hafeneinfahrt von Calais hochgezogen
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