Dornenschwestern (German Edition)
das erste Mal, dass du im Tower zu Abend isst, Anne, nicht wahr?», fragt er. Und ich erschrecke und bin ganz aufgeregt, dass er überhaupt Notiz von mir nimmt, mein rotes Gesicht brennt, doch ich antworte vernehmlich: «Ja.»
Richard am anderen Ende des Tisches ist ein Jahr jünger als Isabel und nicht größer als sie, doch nun, da sein Bruder König von England ist, wirkt er viel stattlicher. Sonst lächelt er immer, er hat so freundliche Augen, doch jetzt, beim Krönungsessen seiner Schwägerin, zeigt er sich von seiner besten Seite, ist formell und schweigsam. Isabel versucht, mit ihm Konversation zu betreiben, und bringt die Sprache auf Reitpferde, sie fragt ihn, ob er sich an unser kleines Pony in Middleham Castle erinnert. Lächelnd fragt sie ihn, ob es nicht lustig gewesen sei, als Pepper mit ihm durchging und ihn abwarf. Richard, der in seinem Stolz schon immer empfindlich war wie ein Kampfhahn, wendet sich an Martha Woodville und sagt, er erinnere sich nicht. Isabel tut so, als wären wir die allerbesten Freunde, dabei war er doch nur einer von zahlreichen Mündeln, mit denen wir jagten und zusammen zu Mittag aßen, damals, als wir ungestört in England lebten. Isabel möchte die Rivers-Mädchen davon überzeugen, dass wir eine große glückliche Familie sind und sie unerwünschte Eindringlinge, doch in Wirklichkeit waren wir die Warwick-Mädchen in der Obhut unserer Mutter, und die York-Jungen ritten mit Vater aus.
Isabel kann Grimassen schneiden, so viel sie will, mich bringt sie nicht dazu, dass ich mich unbehaglich fühle. Uns steht viel eher das Recht zu, an diesem Tisch zu sitzen, viel eher als den schönen Rivers-Mädchen. Wir sind die reichsten Erbinnen in ganz England, und mein Vater herrscht über den Ärmelkanal zwischen Calais und der englischen Küste. Wir entstammen dem großen Geschlecht der Nevilles, Hüter des Nordens von England; in unseren Adern fließt königliches Blut. Mein Vater war Richards Vormund und Mentor und Ratgeber des Königs, und wir sind den anderen hier in der Halle ebenbürtig, reicher gar als der König und von weit vornehmerer Geburt als die neue Königin. Ich kann als Gleichgestellte zu jedem königlichen Herzog des Hauses York sprechen, denn ohne meinen Vater hätte ihr Haus die Kriege verloren, und wir würden weiterhin vom Hause Lancaster regiert, und George, so ansprechend und prinzlich er auch ist, wäre der Bruder eines Niemands und der Sohn eines Verräters.
Es ist ein ausgedehntes Mahl, doch das Krönungsmahl morgen Mittag wird noch länger dauern. Heute Abend werden zweiunddreißig Gänge aufgetragen, und die Königin schickt einige besondere Gerichte an unseren Tisch, um uns mit ihrer Aufmerksamkeit zu ehren. George steht auf und verneigt sich vor ihr, um sich zu bedanken, und dann tut er uns allen von der silbernen Platte auf. Er sieht, dass ich ihn beobachte, und bedenkt mich mit einem Zwinkern und einem Extralöffel Soße. Ab und zu wirft meine Mutter einen raschen Blick herüber – wie ein Leuchtturm, dessen Licht über das dunkle Meer huscht. Jedes Mal, wenn ich ihren harten Blick auf mir spüre, hebe ich den Kopf und lächele sie an. Ich bin mir sicher, dass sie nichts an mir auszusetzen hat. Ich halte eine der neuen Gabeln in der Hand, und in meinem Ärmel steckt eine Serviette, als wäre ich eine französische Dame und durchaus vertraut mit diesen neuen Moden. Ich habe mit Wasser verdünnten Wein in dem Glas zu meiner Rechten, und ich esse, wie es mir beigebracht wurde: anmutig und ohne Hast. Wenn George, ein Herzog von königlichem Geblüt, mich seiner Aufmerksamkeiten für würdig befindet, wüsste ich weder, was dagegen spricht, noch, warum jemand überrascht darüber sein sollte. Für mich ist es gewiss keine Überraschung.
Solange wir anlässlich der Krönung der Königin als Gäste des Königs im Tower residieren, teile ich mir in der Nacht ein Bett mit Isabel, genau wie schon mein ganzes Leben zu Hause in Calais. Ich werde eine Stunde vor ihr nach oben geschickt, doch ich bin viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Nachdem ich meine Gebete gesprochen habe, liege ich in meinem Bett und lausche der Musik, die von unten aus der Halle heraufklingt. Sie tanzen noch; der König und seine Gemahlin tanzen für ihr Leben gern. Wenn er ihre Hand nimmt, kann man sehen, dass er sich im Zaum halten muss, um sie nicht noch näher an sich zu ziehen. Sie senkt den Blick, und wenn sie aufschaut, betrachtet er sie mit glühenden Augen, und sie schenkt ihm ein
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