Dornentöchter
unterwegs, als ich diese hinuntereilte. Viele der bekannten Gesichter wirkten angespannt. Der Gestank der vor kurzem gestrandeten Wale schien der Stadt anzuhaften. Einige der Alten behaupteten, es handle sich um ein Zeichen: Das Rumoren in Europa, von dem wir gehört hatten, wo angeblich jüdische Menschen verfolgt und aus ihren Berufen verdrängt wurden, werde zu Krieg führen. Andere machten sich darüber lustig, schließlich schien Europa auf der anderen Seite des Mondes zu liegen. Auch wenn die Lokalzeitung optimistisch vom zunehmenden Schiffsverkehr zwischen Tasmanien und dem australischen Festland sowie von den steigenden Lammfleischexporten berichtete, auch wenn wir alle stolz darauf waren, dass Joe Lyons, praktisch einer von uns, Premierminister war, so blieb für die meisten von uns das Leben doch bestimmt vom täglichen Existenzkampf.
Während Hobart stolz war auf sein erstes Oberleitungsbussystem und die neue Bank, beschäftigten uns in Pencubitt die Feierlichkeiten zum hundertsten Geburtstag von Polly Jones. Diese allseits beliebte alte Dame, die mindestens zwanzig Jahre jünger aussah – wie alle Alten schrieb sie es der guten Luft von Pencubitt zu –, veranstaltete eine große Geburtstagsparty in Blackness House, und die Menschen strömten zu uns ins Städtchen, um auf ihr Wohl anzustoßen. Es erschien sogar ein kurzer Artikel in der Hobart-Ausgabe des Mercury über das kleine tasmanische Städtchen mit der saubersten Luft auf dem Planeten, wo neunzigjährige Männer am Strand Drachen steigen ließen und Frauen mit knapp hundert neben ihnen herrannten! Der örtliche Allgemeinarzt Dr. Nettles erklärte im Gespräch mit der Zeitung, es gebe für ihn nicht genug Arbeit, weil die Menschen zu gesund seien – die Winde, die von der Antarktis herwehten, bliesen alle Bazillen hinaus aufs Meer! Er hatte wirklich einen spitzbübischen Sinn für Humor.
In der High Street nahm ein Phänomen währenddessen stetig zu: der Anblick von Stadtstreichern. Männer, die in Schwierigkeiten geraten und nun gezwungen waren, von Stadt zu Stadt zu ziehen, und um Geld und Essen zu betteln. Es war unmöglich, jedem etwas zu geben, doch ich fand in meinen Taschen ein paar Münzen, die ich einigen von ihnen im Vorbeigehen in ihre Schalen legte, und dafür mit tiefer Dankbarkeit und besten Weihnachtswünschen seitens dieser bedauernswerten Herren belohnt wurde.
Als ich an einem Chor vorbeikam, blieb ich stehen, um einigen Takten von »Oh Come All Ye Faithful« zu lauschen, wurde jedoch alsbald von einem hartnäckigen Bettler zum Weitergehen gezwungen. Die wenigen Münzen in meinem Beutel hatte ich bereits verteilt, doch er ließ trotzdem nicht locker. Harte Zeiten und die Verzweiflung holten das Schlechteste aus diesem armen Mann heraus.
Unten am Hafen winkte ich den paar Fischern zu, die herumsaßen, Netze flickten und sich unterhielten. Einer der Jüngeren pfiff mir hinterher, was mir die Röte in die Wangen trieb. Ich tat so, als hätte ich nichts gehört, und eilte weiter. Seit jenem Abend des Mördersuchspiels hatte ich Victor nicht mehr gesehen. Mir war zu Ohren gekommen, er arbeite inzwischen in Burnie, aber ich war nach wie vor verletzt und wütend darüber, wie er mich behandelt hatte. Jedes Mal, wenn ich den Schrank öffnete und das Kleid sah, das Mutter und ich genäht hatten, kehrte der Schmerz zurück. Es gab keine Romanze in meinem Leben, obwohl ich oft von einem Geliebten träumte, der all das war, was ich mir ersehnte: ein Freund, ein Vertrauter, ein Gleichgesinnter. Nur sehr wenige Männer in Pencubitt interessierten mich. Ich verstand beim besten Willen nicht, was Pearl an diesem Fischer Teddy so attraktiv fand – vor allem, da sie meiner Meinung nach mit Maxwell bereits den perfekten Mann besaß. Manchmal fragte ich mich, ob ich in einer solch kleinen Stadt jemals einen Liebsten finden würde. Die meisten Mädchen, mit denen ich zur Schule gegangen war, hatten inzwischen geheiratet und Kinder bekommen. Ich fürchtete, zur alten Jungfer zu werden. Andererseits, wie konnte ich Mutter verlassen, wo sie doch bei so schlechter Gesundheit war? Ich fühlte mich wie eine Gefangene.
Als ich am Poet’s Cottage ankam, öffnete Pearl mir in einem unpassenden, hellrosafarbenen Négligé aus Crêpe de Chine die Tür. »Hallo, Birdie«, säuselte sie. »Komm rein und feier mit uns. Ich habe gerade mein Buch an den Verlag weggeschickt. Es ist das Beste bisher.«
»Das sagst du immer!«, rief Maxwell aus dem Wohnzimmer,
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