Dornentöchter
die Kapelle zum Gedenken an seine Frau Elizabeth und für private Familienandachten erbaut. Ich war früher bereits einmal dort gewesen und wusste, dass es sich um ein einfaches, rustikales Gebäude handelte. An einigen Stellen war der Sandstein brüchig geworden, und es gab ein halbes Dutzend Bänke sowie einen kleinen Holzaltar. Ein winziges Bleiglasfenster spendete rot gefärbtes Licht. Vom Dach hingen riesige Spinnweben herunter und Peter warnte uns, nicht hineinzulaufen.
»Hier ist ja noch nicht viel vorangegangen!«, schnauzte Mrs Bydrenbaugh ihn an. »Es ist hinterm Altar«, erklärte sie an mich gewandt. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, denn es könnte noch mehr Schlangen geben.« Ich persönlich bezweifelte, dass irgendeine Schlange es wagen würde, sich in Mrs Bydrenbaughs Nähe zu begeben, blieb aber trotzdem wachsam.
Ich entdeckte es sofort – man hatte ein großes Loch durch die eine Wand geschlagen – und bald erkannte ich auch, weshalb die Männer solche Angst hatten. Hinter der Wand verbarg sich ein winziger Raum. Wenn ich die Arme ausstreckte, konnte ich die Wände auf allen Seiten berühren. In der Ecke lag ein Haufen schimmliger Lumpen, die längst verrottet waren. Als ich sah, dass an einer Stelle einige Worte in den Stein gekratzt standen, ging ich näher hin und las: ICH VERGEBE EUCH . MÖGE GOTT MIR BEISTEHEN .
Ich spürte, wie mir die Haare im Nacken zu Berge standen. Mein Atem ging flach, und ich wäre am liebsten davongelaufen. In dieser winzigen Kammer war irgendetwas Schreckliches passiert, sie barg irgendein dunkles Geheimnis, das nun zum Vorschein kam. Ich verstand nun, weshalb einige der Männer sich dorthin geflüchtet hatten, wo Leben und Gelächter herrschte.
Als ich mich nach Mrs Bydrenbaugh umsah, las sie die Frage in meinen Augen. »Der Streich irgendeines Kindes«, meinte sie. »Ich finde dauernd irgendwelche Wandkritzeleien von Kindern früherer Generationen. Besitz zu verschandeln ist leider eine der eher ärgerlichen Kinderangewohnheiten. Ich musste es aus Violet, als sie klein war, auch herausprügeln.«
Sie zeigte auf einen Rupfensack in der Ecke. »Ich habe Peter die Knochen einpacken lassen, die sie gefunden haben. Das hat den Männern Angst eingejagt. Ein paar alte Knochen, und schon bellen sie rum, man hätte hier irgendeine Frau eingesperrt. Ich weiß, dass die meisten von ihnen nicht lesen können, aber man könnte schwören, sie seien mit den Schauerromanen von Ann Radcliffe groß geworden oder anderem Schund dieser Art.«
Ich schaute Peter an. Er sah genau so aus, wie ich mich fühlte, und ließ den Blick unruhig umherschweifen.
»Sollten die Knochen nicht von der Polizei untersucht werden?« Schließlich hatte ich meine Stimme wiedergefunden. »Woher wollen Sie wissen, dass da ein Tier verendet ist? Vielleicht wurde ein Verbrechen begangen.«
»Du lieber Himmel, Birdie. Ich hatte angenommen, Sie hätten mehr Verstand!«, rief Mrs Bydrenbaugh. »Sie sprechen von meinen Vorfahren. Ich erbitte mir also einen respektvolleren Ton! Es gab kein Verbrechen. Vermutlich laufen Sie gleich den Männern hinterher ins Wirtshaus. Heben Sie sich Ihre Phantasie für Ihre Kunst auf!«
Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, doch ich wollte einfach nur weg. Der Raum fühlte sich verunreinigt an. Vielleicht war es die abgestandene Luft, die mir zu schaffen machte, sagte ich mir, denn ich wollte ja glauben, dass es einen logischen Grund für die Furcht gab, die mir durch die Adern kroch. Doch es war, als sei dies ein Ort, an dem großes Unglück und Unheil gediehen war. Und durch das Aufbrechen der Wand hatten wir dieses nun entfesselt und auf die Welt losgelassen.
Die Kammer hätte nie geöffnet werden dürfen. Die Arbeiter hatten die Büchse der Pandora aufgemacht und alles freigelassen, was darin hätte gefangen bleiben sollen. Ich wünschte mir, Mrs Bydrenbaugh hätte mir den versteckten Alkoven in der Kapelle nie gezeigt. Er verfolgt mich immer noch.
Wenn ein Flüstern aus der Vergangenheit Leben zerstören kann, dann wurden wir an jenem Tag alle vom blutigen Pfeil des Schicksals getroffen.
KAPITEL 13
Heiligabend
Pencubitt, Dezember 1935
An Heiligabend war ich zum Abendessen ins Poet’s Cottage eingeladen. Als ich Mutter die Einladung zeigte, war sie ungewöhnlich still. Ich hatte erwartet, dass sie lautstark über »diese schreckliche Frau« schimpfen würde, doch sie verzog nur missbilligend den Mund.
Es waren mehr Menschen als gewöhnlich auf der Hauptstraße
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