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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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und an dem Steuer saß eine Frau.
    Ich fuhr wieder auf die Fahrbahn zurück und dann langsam an der Baustelle vorbei. Direkt vor dem Tor stand ein niedriges, knallrotes Auto. Es sah vollkommen neu aus. Auch in diesem Wagen saß eine Frau, allein. Sie trug eine schwarze Baskenmütze auf ihrem dunklen Haar. In ihrem Mundwinkel glühte eine Zigarette. Es war Irene Jonassen.
    Sonst war alles still und ruhig. Die Straße war mehr oder weniger ausgestorben, der halb fertige Betonbau erhob sich dunkel und leblos.
    Ich bog in die nächste Seitenstraße ein und parkte gleich um die Ecke. Dann holte ich eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und steckte sie in die Jackentasche. Ich schloss den Wagen ab und schlenderte locker um die Ecke, die Hände in den Taschen und leise vor mich hin pfeifend, wie ein zufälliger abendlicher Spaziergänger.
    Irene Jonassen beugte sich rasch vor und drückte die Zigarette aus, als sie mich entdeckte. Sie öffnete die Tür und stieg aus. Ihr weiter Rock flatterte um ihre wunderhübschen Beine, und sie stand mit einer kleinen Tasche in der Hand da und wartete, bis ich sie erreicht hatte. Ihr Rock war rostbraun mit einem Muster aus Rot und Weiß. Dazu trug sie eine schwarze, enge Herrenjacke aus ungefähr demselben Stoff wie die Baskenmütze. Sie hatte ihr Gewicht auf ein Bein verlagert und das andere ein wenig abgeknickt. Sie war blass und die Rosen auf ihren Wangen waren nicht echt. Die Augen hatte sie schwarz umrahmt, und die Bögen darüber ließen ihr Gesicht immerzu verwundert aussehen, sogar wenn sie lächelte.
    Sie lächelte mir entgegen. Ihre Lippen waren dunkelrot, fast blauschwarz im Halbdunkel. Es sah aus, als würde sie frieren.
    Ich sagte: »Guten Abend, gnädige Frau.«
    »Guten Abend«, sagte sie, und ihre Stimme war nicht fest. Sie warf leicht den Kopf in den Nacken, und ihr Haar schwang um sie herum. Sie wirkte angespannt und sah sich ständig um.
    »Nervös?«, fragte ich.
    »Es kommt nicht so oft vor, dass ich um diese Zeit in dieser Gegend bin«, antwortete sie. »Wollen wir reingehen?«
    »Wenn es das ist, was du willst«, sagte ich.
    Sie gab einen unbestimmbaren Laut von sich und zuckte mit den Schultern. Aus der Handtasche zog sie einen großen Schlüssel, der mit einem Stück Tau an einem länglichen Holzstück befestigt war. »Hier ist der Schlüssel«, sagte sie. »Kannst du nicht …«
    Ich ging zu dem großen, breiten Tor. Es war mit einer dicken Kette verschlossen, die an einem soliden Schloss befestigt war. Ich warf schnell einen Blick die Straße entlang. Es war niemand zu sehen. Der Schlüssel glitt problemlos ins Schloss, und es öffnete sich mit einem Scheppern. Ich löste die Kette und schob das Tor gerade so weit auf, dass wir hineinhuschen konnten. Ich ging vor und sie folgte mir. Der Boden dahinter war uneben und sie griff nach meiner Hand. Ihre Hand fühlte sich klein und warm an.
    Ich schob das Tor wieder zu, zog die Kette wieder an ihren Platz und hängte das Schloss ein, ohne es abzuschließen, sodass man von außen nicht sehen konnte, dass es offen war.
    Sie ging schon auf das Gebäude zu. Es gähnte uns mit seinen schwarzen Betonöffnungen entgegen. Türen und Fenster waren noch immer nicht eingesetzt worden.
    Wir stiegen vorsichtig über Reste von Verschalungsmaterial, große Nägel, Klumpen harten Betons und lange Metallstäbe mit rostigem Ausschlag.
    In der Luft hing jetzt ein schwacher Nieselregen, und als wir das schützende Haus erreicht hatten, nahm sie die Baskenmütze ab und schüttelte die Feuchtigkeit aus ihrem Haar. Dann setzte sie die Mütze wieder auf. Wir standen sehr nah beieinander. Ihr Parfüm erinnerte an den Duft frischer Blätter, wenn man sie im Frühling zwischen den Fingern zerdrückt. In dem Gebäude war das Licht so schwach, dass ihre Augen wie schimmernde Glaskugeln in ihrem weißen Gesicht hingen. Ihr Mund war leicht geöffnet, weich und feucht.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich, und der heisere, vibrierende Ton in meiner Stimme war nicht zu überhören.
    Sie suchte nicht mehr Abstand, sondern wandte nur den Kopf ab und sah ins Haus hinein. »Die Treppe da rauf – ein paar Stockwerke hoch.«
    »Wie viele?«
    »Fünf – glaube ich.«
    »Können wir nicht den Fahrstuhl nehmen?«
    »Der ist noch nicht installiert.«
    »Na, dann nicht.«
    Wir standen da und sahen einander an. Sie knöpfte ihre Jacke auf: lange, weiße Finger an schwarzen Knöpfen. Die Bluse darunter war eierschalfarben und dünn.
    Ich sagte: »Was

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