Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
lagen ungewöhnlich weit auseinander, was dem ganzen Gesicht etwas Flaches gab. Er sah aus wie tausend andere junge Männer, bevor das Leben begonnen hat, seine Spuren in ihren Gesichtern zu hinterlassen. Ich hätte es selbst sein können – vor zwanzig Jahren.
»Ein Abiturfoto«, erklärte Werner. »Obwohl sie sich ja heute nichts mehr aus Abitursmützen machen … Wir haben ihn überredet, ein Foto machen zu lassen.«
Ich nickte und sagte: »Das kann ja sehr sinnvoll sein – in manchen Situationen. In Situationen wie dieser, meine ich. Sieht er immer noch so aus?«
»Ungefähr. Sein Haar ist vielleicht etwas länger, auch etwas dunkler. Er ist erwachsener geworden, markanter um den Mund herum, glaube ich. Aber Sie wissen ja, es ist eigenartig, bei seinen eigenen Kindern bemerkt man solche Veränderungen ja fast nicht, jedenfalls nicht, solange sie zu Hause wohnen. Ich meine, sie verändern sich ja langsam, Tag für Tag, oder? Bis man sie dann eines Tages plötzlich ansieht, sich an die Stirn schlägt und sagt: Du meine Güte! Sind sie schon so groß!
Wir haben auch eine Tochter, wissen Sie – Ingelin. Sie und Lisa waren Freundinnen, aber dann … Tja.« Er zuckte mit den Schultern und erinnerte sich an sein Kognakglas. »Aber lassen Sie uns nicht vergessen … Prost, äh, Veum!«
Ich hob mein Glas und nippte an der goldenen Flüssigkeit. Sie legte sich wie Honig auf meine Zunge, eine Erinnerung an einen vergangenen französischen Sommer.
Ich sagte: »Wie war eigentlich die Beziehung zwischen Ihrem Sohn und Lisa?«
Er antwortete nicht direkt, sondern sagte dann: »Man will ja immer … auf irgendeine Weise will man doch immer, dass die eigenen Kinder werden wie man selbst – oder? Ich bin Beamter, und obwohl es kein besonders spannendes Dasein war, es war trotzdem erfüllt, interessant – und ich hätte für mein Leben gern gesehen, dass Peter … jedenfalls etwas Ähnliches. Deshalb haben wir ihn in der Schule immer ermuntert, haben ihm weitergeholfen, wenn er Schwierigkeiten hatte, haben ihn belohnt, wenn er gut war. Aber dann …«
Er kniff die Lippen zusammen und schaute sich in dem dunklen Zimmer um, an allen Buchrücken entlang. Auf einem dunkelbraunen Gestell in einer Ecke stand eine große Grünpflanze mit langen, hängenden Blättern. An der Decke hing ein Leuchter aus nachgedunkeltem Holz, mit kleinen Schirmen aus grünem, durchsichtigem Stoff. »Er machte Abitur, fing an der Uni an. Aber weiter kam er nicht. Er machte das Einführungsjahr nicht fertig; stattdessen …«
Die Tür ging auf und seine Frau kam herein. Sie trug ein kleines Tablett mit beigebraunem Blumenmuster. Darauf standen drei zerbrechliche blaugraue Kaffeetassen und eine Kaffeekanne aus derselben Familie. Auf einem kleinen silbernen Untersatz standen Sahne und Würfelzucker. Sie stellte das Tablett auf den Tisch zwischen uns und verteilte die Tassen, stellte Sahne und Zucker für uns alle erreichbar in die Mitte, schenkte Kaffee ein und setzte sich dann auch. »Was hast du erzählt?«, fragte sie ihren Mann in scharfem Ton.
»Nichts. Nur –«
»Das Mädchen war an allem schuld«, unterbrach sie ihn an mich gewandt. »Es gab nie irgendwelche Probleme mit Peter, bis sie anfing …« Sie schlürfte etwas heißen Kaffee. »Bitte, nehmen Sie sich Sahne und Zucker, wenn Sie … Sie war zwar auch schon vorher hier gewesen, Ingelin und sie waren nämlich seit Jahren befreundet, aber Peter war ja fünf, sechs Jahre älter als die beiden, deshalb hatte er nichts mit ihnen zu tun – damals. Das kam erst später –«
»Wann?«
»Wann?« Sie sah ihren Mann an. »Das erste Mal, dass ich es bemerkte, war in dem Jahr als er Abitur machte. Peter war achtzehn, und sie, Lisa, muss dreizehn gewesen sein. Ich weiß noch – es war so ein milder, warmer Aprilabend, und Håkon und ich hatten einen Spaziergang gemacht, und Ingelin war zum Geburtstag bei einer Cousine, und als wir zurückkamen … Sie konnten es eben nicht sehen, als wir reingekommen sind, aber unterhalb des Hauses ist noch ein kleiner Garten, geschützter, mit einer Gartenbank und einem Tisch und ein paar wunderbaren, großen Rosenbüschen. Wenn man dort sitzt, kann einen vom Weg aus niemand sehen, aber man hört, wer kommt – auf dem Kiesweg. Håkon und ich gingen unten herum, um ein bisschen dort zu sitzen und die milde Luft zu genießen, und dann … Da saßen sie, Peter und Lisa, auf der Bank, so weit voneinander weg, dass es leicht zu erkennen war, dass sie voneinander
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