Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Lisa oft für ein, zwei Wochen mit uns am Anfang der Ferien runtergefahren, aber in dem Jahr – ich wollte sie lieber nicht mehr als nötig an unsere Familie binden. Aber – das war dumm von mir. Wenn ich sie eingeladen hätte … dann wäre vielleicht nichts passiert.«
»Was ist denn nun passiert?«, fragte ich.
Sie sah mich mit leeren Augen an. »Das – wissen wir nicht.«
Ihr Mann seufzte.
»Aber wir haben es gemerkt, als wir wiederkamen«, fuhr sie fort. »Dass etwas los war. Er war verändert. Rastloser – aggressiv. Lisa – sie war dann verreist, aber als sie zurückkam, hielt sie sich plötzlich fern. Sie kam nie mehr zu Ingelin, und als ich Ingelin fragte, sagte sie, Lisa fände sie zu kindisch, Lisa hätte neue Freunde – unten in der Stadt. Peter war auch viel unterwegs. Er war natürlich in der Universität, er fing in dem Herbst mit den Vorbereitungskursen an, und das waren Abendveranstaltungen. Aber oft kam er spät nach Hause und roch nach Bier.«
Werner nickte düster. »Erst später fing er mit Drogen an. Ich habe eine Menge darüber gelesen. Wir bekamen Informationen aus der Schule von Ingelin. Damit wir die Symptome erkennen sollten. Sie wissen ja, es wurden immer mehr, die so etwas nahmen … und sie wurden immer jünger. Wir haben gelernt, worauf wir achten sollten: die kleinen Pupillen, die glasigen Augen, das Schlafwandlerische, der Mangel an Konzentration, die Schläfrigkeit. Sie können sich vielleicht denken, wie ich mich gefühlt habe, als ich plötzlich diese Symptome erkannte – bei meinem eigenen Sohn!«
»Er lag morgens immer länger im Bett«, sagte Frau Werner. »Es war manchmal fast unmöglich, ihn aus dem Bett zu kriegen. Und ich sah ihn nie arbeiten. Angeblich tat er das im Lesesaal, aber dann traf ich ihn zufällig in der Stadt oder hörte, dass Leute ihn gesehen hatten … Er trieb sich auf den Straßen rum oder saß in der Bibliothek und las Zeitschriften und Zeitungen oder hing unten beim Marktplatz herum und schaute den Touristen zu.«
»Und Lisa …«, sage ich.
»Sie hatte die Schule gewechselt und ging nicht mehr in Ingelins Klasse. Wir sahen sie, wenn sie vorbeiging, sie machte sich kaum noch die Mühe, uns zu grüßen. Sie hatte – sie hatte sich plötzlich entwickelt, unglaublich, wurde sozusagen eine reife Frau – im Laufe dieses Sommers und Herbstes.«
»Das wundert mich«, sagte ich. »Sie wirkte jetzt nicht sonderlich reif.«
»Na ja, ich meine, reifer als vorher, und reifer als Ingelin – aber natürlich vollkommen unreif, so meinte ich es nicht!«
»Aber das – das ist gut zwei Jahre her.«
»Ja, aber es passierte – über einen längeren Zeitraum. In dem Frühling vor zwei Jahren mussten sie Lisa aus der Schule nehmen und sie zu einer Entziehungskur schicken. Dann kam sie zurück, im Sommer, und da ging es ihr wohl gut, ein Jahr lang. Aber im letzten Herbst – im letzten Herbst fing es wieder an. Und jetzt in diesem Winter, jetzt waren sie und Peter zusammen, offensichtlich. Sie …«
»Augenblick mal. Und in der Zwischenzeit – war Peter zu einer Kur?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir konnten ihn nicht zwingen, und wir haben noch nie …«
Werner sagte: »Er wurde nicht so abhängig, glaube ich. Nicht so wie sie. Er war älter, und er hatte sich etwas besser unter Kontrolle. Lisa ist einfach abgerutscht und steckte, ehe sie sichs versah, bis zur Taille im Dreck. Stellen Sie sich nur vor, sie war vierzehn, als sie sie zur ersten Kur schickten! Peter … Er gab die Uni schließlich auf, suchte sich einen Job. Das war überhaupt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber ich war trotzdem froh. Eine Zeit lang glaubte ich, es würde gut gehen. Er führte wieder ein regelmäßiges Leben, ging früh am Morgen zur Arbeit, kam am Nachmittag nach Hause, war abends viel zu Hause. Aber dann … plötzlich hatte er mehr Geld. Wir sahen es an der Kleidung, die er sich kaufte. Und dann begann er wieder zu trinken – und später, Drogen zu nehmen. Wieder sah ich die gleichen Symptome.«
»Das war spät im Frühling letztes Jahr«, sagte Frau Werner. »Und im Herbst fing Lisa wieder an Drogen zu nehmen, wie wir gehört haben – wir sprachen ja immer noch ab und zu mit ihren Eltern, wir sind ja schließlich Nachbarn, und wir – wir kennen uns schon sehr lange. Auch wenn sie nicht so viel sagten, begreift man doch genauso viel aus dem, was sie nicht sagen, nicht wahr? Und im Winter … sie und Peter, sie kamen zusammen nach Hause,
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