Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
weg gerutscht waren, und aus ihren Gesichtern leuchtete das schlechte Gewissen …«
»Vera«, sagte ihr Mann vorsichtig.
»Damals habe ich nichts gesagt«, fuhr sie fort, »aber sie murmelte irgendwas, dass sie gekommen sei, um Ingelin zu treffen, und die sei nicht da gewesen, und dann hätten sie dagesessen und geredet, und ich meine, das musste ja nicht unbedingt so viel bedeuten, wenn sie nicht so deutlich etwas zu verbergen gehabt hätten! Er hatte die Schulbücher vor sich aufgeschlagen, aber er sah nicht aus, als ob er darin gelesen hätte!«
Ich sagte: »Vielleicht waren sie tatsächlich nur verwirrt, wie es junge Menschen sind, wenn sie plötzlich überrascht werden.«
»Genau – genau das hat Håkon auch gesagt. Schon damals hat er es entschuldigt – er wollte es nicht sehen!«
»Vera …«
»Aber ich habe es gesehen – von Anfang an, von dem Augenblick an, und wenn wir getan hätten, was ich gesagt habe, und damals mit ihren Eltern geredet, mit ihr geredet hätten – dann wäre es vielleicht nicht … Aber wir haben nur mit Peter gesprochen – und Sie wissen, wie Jungs in dem Alter sind!«
»Mehr konnten wir nicht tun, Vera. Es war nicht unsere Tochter. Es war unser Sohn.«
»Aber was hättest du getan, wenn es deine Tochter gewesen wäre? Und ein fünf Jahre älterer Junge – mit dreizehn!«
»Ich …«
»So musst du nämlich denken! Wenn sie dann älter sind, dreißig oder noch älter, dann bedeuten fünf Jahre Altersunterschied nichts mehr. Aber wenn sie so jung sind … Ich habe mir Peter vorgenommen, am gleichen Abend, und habe ihm meine Meinung gesagt. Er hat nicht darauf geantwortet, nur gesagt, dass ich das Ganze missverstanden hätte, und wenn ich es nicht missverstanden hätte, dann ginge es mich nichts an. Dann verschwand er und kam erst wieder zurück, als ich schon im Bett war.« Eine kleine Pause. »Aber Håkon war noch wach.«
Håkon Werners Gesichtsausdruck war jetzt fast verträumt. Wir sahen ihn beide erwartungsvoll an. Nach einer Weile sagte er: »Er war betrunken. Es war das allererste Mal, dass ich ihn so sah. Er kam – er hatte Flecken auf den Knien, auf den Hosenbeinen, auf dem Hemd …« Er berührte seine eigene Kleidung an den gleichen Stellen, als versuche er, unsichtbare Flecken wegzurubbeln. »Ich saß da drüben in dem Sessel unter der Stehlampe, mit einem Buch. Er kam rein – da drüben – und stützte sich an den Türrahmen. Sein Haar war zerzaust, sein Mund halb offen, feucht – und seine Augen schwammen. Er konnte seinen Blick nicht auf mich konzentrieren.«
Vera Werner schauderte. Sie hatte diese Beschreibung sicher schon früher gehört, aber sie wirkte jedes Mal wieder so wie beim ersten Mal.
»Ich musste ihn nach oben bringen. Er hing über meiner Schulter, stolperte über seine eigenen Füße. Es war leicht zu verstehen, warum seine Kleider schmutzig waren.«
»Hat er etwas gesagt?«, fragte ich.
»Er hat es versucht. Aber es wurde nur ein Kauderwelsch. Er weinte. Und ich hörte – ihren Namen.«
»Lisa!«, fügte seine Frau hinzu. »Aber selbst da wollte er es nicht akzeptieren.«
»Ich rechnete damit, dass er sich nur – erklären wollte«, sagte Werner.
»Sich erklären!«, schnaubte sie.
Ich trank meinen ersten Schluck von dem Kaffee. Er war so schwarz und stark, dass sich meine Zunge im Mund krümmte. Ich sagte: »Wann waren Sie sicher, dass – da wirklich etwas schief lief?«
Frau Werner sagte: »Er schaffte Gott sei Dank zuerst noch das Abitur. Obwohl sie um ihn kreiste – wie ein Geier. Ich konnte ja auch Ingelin nichts sagen. Wie hätte ich es erklären sollen? Sie war ja erst – sie gingen in die siebte Klasse!«
»Wer heute in die siebte Klasse geht, weiß mehr vom Leben, als wir wissen werden, wenn wir sterben«, sagte ich.
»Tja. Das stimmt vielleicht. Aber nicht meine Ingelin. Sie ist zart und unschuldig, und ich konnte nicht – konnte es einfach nicht!«
Ihr Mann warf mir einen sehr wortreichen, viel sagenden Blick zu.
Sie fuhr fort: »Aber dann – in dem Sommer … Es war der erste Sommer, wo er nicht mit uns in Urlaub fahren wollte. Wir haben ein Sommerhaus in Sunnhordaland, südlich von Husnes, wunderschön gelegen, am Fjord, phantastisch für Kinder, junge Leute, Erwachsene – aber in dem Jahr wollte er nicht mit. Er suchte sich einen Sommerjob und blieb alleine hier, während Ingelin und wir beide fuhren. Håkon hatte früh Urlaub in dem Jahr. Halles waren noch nicht losgefahren. In früheren Jahren war
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