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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Natürlich.«
    »Aber Sie bringen es wieder zurück, oder?« Frau Werner sah plötzlich von ihrer Kaffeetasse auf.
    »Selbstverständlich«, sagte ich.
    Es war eine merkwürdige Aufbruchstimmung in dem stillen Raum, als sei ich ein Verwandter auf der Durchreise. Die beiden anderen wirkten merkwürdig hilflos, heimatlos, ohne festen Haltepunkt.
    Dadurch drängte sich mir die Frage auf, wie viel Peter ihnen wirklich bedeutete, und vor allem, wie seine Schwester Ingelin wohl sein mochte.
    Ich verabschiedete mich höflich und verließ das Haus. In mir hatte sich eine starke Unruhe breit gemacht, eine unbestimmbare, unangenehme Unruhe.

10
    Durch die Löcher in der Wolkendecke tropfte jetzt die Sonne auf die Stadt herunter wie kleckernde Farbe. Ich ging von Kalfarlien über Leitet nach Hause. Die großen Villen hörten ganz am Ende von Brattlien auf. Um die Ecke bei Småskansen und durch die Promsgate waren die Häuser kleiner, die Dächer niedriger. Die Fløienbahn fraß sich wie ein blinzelnder Maulwurf nach einem allzu langen Winterschlaf aus der Erde hervor. Ich ging an der Feuerwache in Skansen vorbei, wo die Farbe großflächig von den Wänden abblätterte, und gleich darauf war ich in der Gasse, in der ich wohnte.
    In dem kleinen Holzhaus war das Treppenhaus dunkel wie immer, und ich stakste nach oben, noch blind nach dem weißen Licht draußen. Ich schloss meine Wohnung auf. Eineinhalb Tage war ich weg gewesen, und die Luft war stickig. Ich hängte meine Jacke in dem kleinen Vorflur auf und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Vom engen Hof her hörte ich das schwache Knipsen von Wäscheklammern an einer Wäscheleine. Ich kam mir selbst reif vor, zum Trocknen aufgehängt zu werden. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit zusammengeknüllten Papierbällen gefüllt, auf die jemand undeutliche Worte geschrieben hatte: Worte, die ich nur mit Anstrengung erahnen konnte, die zu lesen aber unmöglich waren.
    Das Wasser kochte, und ich goss mir eine Tasse Pulverkaffee auf. Dann leerte ich das Kleingeld aus meinen Taschen. Das war alles, was ich an Bargeld besaß. Es reichte nicht einmal für ein Zirkusbillet. Ich hätte Werner um Vorschuss bitten sollen.
    Ich stellte das gerahmte Foto von Peter Werner auf dem Küchentisch auf und betrachtete es eingehend. Ein junges, unfertiges Gesicht. Noch hatten keine tief greifenden Sorgen es mit schmutzigen Fingern gestreift, keine tiefen Freuden hatten es zum Leuchten gebracht. Es war das Modell eines erwachsenen Gesichts, ein Probefoto, eine Skizze. Es war eine Zeichnung, die der Zeichner weggelegt hatte, während er an anderen Bildern weiterarbeitete, und es war ungewiss, wann er sich ihm wieder zuwenden würde. Peter Werner, Aufenthaltsort unbekannt.
    Ich sah mich in der dunklen Küche um. In der Spüle standen ein paar Teller, eine Tasse und ein Glas von dem Tag, an dem ich abgefahren war. Ein trockenes Küchentuch lag zusammengeknüllt neben dem Abwaschbecken. Ein Stück Seife war von einem Firnis aus grauweißem, angetrocknetem Schaum bedeckt. Das Fenster hinter mir war von Staub, Regen und gewöhnlichem Schmutz fast blind. Es war sowieso selten genug, dass die Sonne hier herunterkam, rund gerechnet zwei bis drei Stunden ungefähr zu Mittsommer jedes Jahr. Und es war lange her, dass jemand anders als ich hier gesessen hatte. Es war lange her, dass jemand bei mir gefrühstückt hatte.
    Plötzlich fühlte ich mich allein. Ich vermisste jemanden, mit dem ich reden konnte. Eine Frau, die vielleicht dort sitzen und die Tasse Kaffee mit mir teilen würde, die mit mir redete, die Hand ausstreckte und mir über die Wange strich. Eine Frau, die mich mit warmen Blicken betrachtete, den Kopf zurückwarf und mich anlachte. Oder eine Frau, die mich anschnauzte, mich ausschimpfte, mir erzählte, was für ein armseliger Kerl ich war, was für ein Idiot, was für ein hoffnungsloser Liebhaber … aber jedenfalls eine Frau.
    Oder ein Kind, ein kleiner Junge, der acht Jahre alt geworden war, der in die erste Klasse ging und Thomas hieß.
    Einfach irgendjemand. Nicht nur das leblose Porträt eines verlorenen Sohnes, der Peter hieß. Peter Werner.
    »Hallo, Peter«, sagte ich, aber er antwortete nicht. Er starrte mich nur stumm aus der Vergangenheit an, aus irgendeinem Fotoatelier.
    Eltern und Kinder. Ich hatte selbst einmal Eltern gehabt, aber sie waren jetzt beide tot. Und ich war selbst einmal Kind gewesen, obwohl das schon furchtbar lange her zu sein schien.
    Ich war in den Straßen

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