Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
auf der anderen Seite von Vågen herumgelaufen, es war die Zeit gleich nach dem Krieg, und die Grundstücke, wo die abgebrannten Häuser gestanden hatten, waren wie endlose Prärien gewesen, die Spielkameraden waren unsterbliche Helden. Man dachte nicht daran, dass man einmal sterben würde. Einige von denen, mit denen ich gespielt hatte, lagen schon als Staub und Asche irgendwo unter der Erde, andere waren feste Gäste in psychiatrischen Kliniken oder Alkoholikerheimen überall im Land. Glücklicherweise wusste man damals nichts von diesen Dingen. Als wir über die Ruinengrundstücke und in die schmalen Gassen hineinjagten, ahnten wir nicht, dass jemand von uns Krebs bekommen würde, bevor er dreißig war, dass andere sich in Hüllen aus Stahl und Glas zu Tode fahren würden, in Ländern, die weit südlich von Norwegen lagen und weit östlich von den endlosen Prärien.
    Und die Sommerferien, im Ryfylke, mit stahlgrauem Meer, dunkelgrüner Vestlandnatur und einem Himmel, der fast immer grauweiß war. Nur einige wenige glückliche Tage waren schimmernd wie Glas und blau wie Glockenblumen. Ein Bauernhof mit einem Mischlingshund, der Bamse hieß und uns mit seinen großen, braunen Tieraugen folgte, wohin wir auch gingen. Ein Vater, der mit einem Taschentuch auf dem Kopf unter einem Sonnenschirm saß, ein Buch über altnordische Mythologie auf dem Schoß; eine Mutter, die mit einem Korb voller frisch gepflückter Erdbeeren vom Feld zurückkam. Damals dachte man nicht daran, dass der Vater in ein paar Jahren tot sein würde, die Mutter Witwe und der Mischlingshund Bamse überfahren und getötet von einem eiligen Touristen.
    Meine Mutter hatte recht lange unten in der Gasse gewohnt. Um sie herum hatten sie ein Haus nach dem anderen abgerissen, um neue Wohnblocks zu bauen, und eine Weile – bevor die neuen Blocks fertiggestellt waren – war es in ihrer dunklen Wohnung heller und freier. Meine Mutter hatte in einem Schaukelstuhl gesessen und war immer weniger geworden, während die unsichtbare Krankheit sie langsam von innen aufgefressen hatte. An einem Abend machte keiner auf, als ich an der Tür klingelte. Als ich mit dem Schlüssel, den ich immer dabei hatte, aufschloss, lag meine Mutter auf dem Boden vor dem Fernseher. Die Obduktion zeigte, dass ihr Magen so gut wie vollständig vom Krebs zerfressen war. Es war unglaublich, dass sie keine Schmerzen gehabt hatte, hieß es. – Sie klagte selten, sagte ich.
    Danach war ich allein. Mein Vater war schon seit neunzehn Jahren tot, und ich hatte selbst einen Sohn, hatte geheiratet und mich wieder scheiden lassen. Das Leben ging weiter, unerbittlich. Neue Sommer, neue Winter, man merkte es fast nicht. Bis irgendwann etwas passiert, das einen dazu bringt innezuhalten, und sich Gedanken zu machen.
    Eltern und Kinder sind nur allzu selten glücklich miteinander. Entweder ist man zu jung oder man ist zu alt. Und manche sterben zu früh – oder zu spät. Manchmal hat man das Gefühl, dass Eltern und Kinder unvereinbar sind wie die Sommer und Winter, in denen wir leben, wie die Tage und Nächte, die uns überrollen.
    Ich ging ins Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich zwischen die kalten, klammen Laken. Ich schlief fast auf der Stelle ein, aber es war ein unruhiger Schlaf. Eine Frau stand über mich gebeugt und schüttelte mich, und ich sah, dass sie rief, aber ich hörte keinen Laut. Es war Lone H., und in einer Ecke des Zimmers saß meine Mutter in einem Schaukelstuhl und schaukelte, vor und zurück, als sei sie gar nicht tot.
    Am Abend wachte ich auf, stand auf, zog mich an und ging in die Stadt hinunter. Ich schaute kurz im Büro vorbei, um zu sehen, ob Post gekommen war, aber das war nicht der Fall. Nicht einmal eine Rechnung, nicht einmal eine Reklamesendung.
    Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und blickte über Torget und Vågen hinweg. Es hatte aufgeklart, und nur ein paar dunkelrote, flache Abendwolken hingen draußen über Askoy. Der Himmel hatte die starke, unbeschreibliche Indigofarbe, die zuerst zu einem undurchdringlichen Blaugrün zu verblassen scheint, um dann ins Dunkelblau, in die Nacht zu kippen, ungefähr über Fløien. Von Askøy bis Ulriken sah man die ganze Farbskala am Abendhimmel, von brennender Röte zu tiefblauem Dunkel. Und im Halbdunkel darunter liegt die Stadt, wie ein Netzwerk aus dunklen Silhouetten, mit schimmernden Lichtern.
    Es war ganz still im Haus; das Telefon würde nie mehr klingeln; ich saß in einem Glaskäfig und sah, wie das Leben

Weitere Kostenlose Bücher