Dornröschengift
schloss kurz die Augen und dachte: Nein , nicht Jamaica ! »Ich verstehe es nicht. Irgendwann muss sie doch nach Haus e gekommen sein. Ihr Kleid hing im Schrank. « Sie breitete den blauen Stoff vor meinen Augen aus . Jamaica hatte recht. Dieses Kleid hätte ihren gesellschaftliche n Ruin bedeutet . Doch wie sollte ich ihrer Mutter beibringen, dass sie es ga r nicht angehabt hatte? Das würde doch bedeuten – Oh Gott! Ja maica war diese Nacht tatsächlich nicht zu Hause gewesen ! Nicht einmal, um sich umzuziehen . Doch bevor ich noch überlegen konnte, was ich antworten soll te, stellte meine Mutter stirnrunzelnd fest: »Aber das ist doc h nicht das Kleid, das Lena gestern getragen hat! « Entsetzt starrte Frau Schuster sie an. »Aber … « »Nein«, erwiderte meine Mutter entschieden. »Sie trug etwa s anderes. So ein kurzes schwarzes Teil mit Pailletten. Ein biss chen zu schick für ihr Alter. Ehrlich, ich habe mich noch gewun dert, dass Sie das erlauben. « »Ich verstehe nicht…« Jamaicas Mutter wurde blass. »Welche s Kleid? « Und nun? Wie sollte ich das erklären ? Mein Herz klopfte laut vor Schuldgefühlen und vor Panik, Ja maica könne etwas zugestoßen sein . Wie Lisa . Ich musste das mit dem Kleid erklären. Egal, ob Jamaica saue r war. Allerdings schien es das Einfachste, erst einmal in Träne n auszubrechen .
Es war mein Vater, der mich in den Arm nahm. »Am besten , Motte, du erzählst einfach alles von Anfang an. « Und das tat ich. Ich berichtete ihnen alles über das Kleid un d den Diebstahl . Danach schwiegen wir . »Warum hat sie nicht mit mir darüber geredet? Wenn ihr da s Kleid wirklich zuwider war, hätten wir ein anderes gefunden« , sagte Frau Schuster . »Vielleicht wollte sie nicht, dass Sie dafür Geld ausgeben«, hör te ich plötzlich Tom. Ich wandte mich um. Offensichtlich hatte n sich seine Kopfschmerzen gebessert. Er war nicht mehr ganz s o blass . »Ob sie deshalb weggelaufen ist?«, fragte Jamaicas Mutter. »Ha t sie mich vielleicht auf dem Ball gesehen und fürchtete den Är ger, wenn ich das mit dem Kleid herausfinde? « Ich schüttelte den Kopf. »Jamaica ist nicht feige. « »Ich glaube, Sofie hat recht«, mischte sich mein Vater ein. »Len a hat das Risiko in Kauf genommen, beim Ladendiebstahl gefass t zu werden. Sie wird doch ihre eigene Mutter nicht mehr fürch ten als die Polizei. Apropos Polizei. Wir müssen sie verständi gen. Schließlich ist bereits ein Mädchen … « Er sprach es nicht aus, aber wir wussten alle, was er meinte .
Während mein Vater zum Telefon ging und meine Mutter in de r Küche Tee für Jamaicas Mutter kochte, zog ich mich in mei n Zimmer zurück, wo ich mich aufs Bett warf und in die Luft starr te. Alles war wie bei Lisas Verschwinden. Die Polizei, die Such hunde und die Gerüchte. Nur würde diesmal das Dorf keine n eigenen Suchtrupp zusammenstellen. Jamaica war schließlic h nicht die Tochter des Bürgermeisters, sondern ein farbige s Mädchen einer allein erziehenden Mutter mit einem unbekann ten Vater aus Jamaica .
Alle Fragen, die meine Eltern mir gestellt hatten, schwirrte n durch meinen Kopf . War mir an dem Abend etwas aufgefallen ? War Jamaica anders gewesen als sonst ? Hatte sie je darüber gesprochen, von zu Hause wegzulaufen ? Die Erwachsenen hatten mich angesehen, als könnte ich dies e Fragen locker beantworten. Ja, klar war sie anders gewesen . Und warum ? Weil sie total in Tom verknallt war, der sie völlig ignorierte . Konnte ich das aussprechen, wenn er mit am Tisch saß ? Wann hatte ich Jamaica zum letzten Mal gesehen? Sie hatte mi t Tom getanzt. Später hatte ich ihre Stimme draußen gehört. Nu r gesehen hatte ich sie nicht, nur geglaubt, es sei ihre Stimme . Wie viel Uhr war es da gewesen? Ich hatte keine Ahnung . Und wenn ich das erzählte, müsste ich Finns Namen nennen . Oder war sie mit Tom draußen gewesen? Mit ihm hatte sie vor her getanzt! Aber ich hatte Tom getroffen, als ich wieder in de n Saal zurückkehrte. Finn allerdings war eine Zeit lang ver schwunden gewesen . Wie sollte ich helfen, ohne Jamaica zu verraten und Finn erneu t zu verdächtigen ? Und wenn Jamaica in den nächsten Minuten einfach zur Tür he reinschlenderte ? Mit ihrem frechen Grinsen? Das wäre doch typisch für sie! Un d hatte sie nicht tatsächlich immer wieder davon gesprochen , wegzugehen, nach ihrem Vater zu suchen ? Andererseits: Lisa war tot . Wäre Mike noch da, ich wüsste, was ich zu tun hätte. Ich würd e sofort zu ihm gehen und
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