Dornroeschenmord
Der weite Rock aus zartem Chiffon bauschte sich genau wie an dem Abend, als Elisabeth beschwingt darin getanzt hatte.
Die Person brachte den noch warmen Körper ins Schlafzimmer. Ganz behutsam, Stück für Stück, zog sie ihn aus und betrachtete ihn. Er war völlig makellos, nicht die winzigste Schramme verunzierte ihn.
Andächtig hob die Person die Arme der Toten und ließ einen mit Wasser getränkten Schwamm darübergleiten. Anschließend wusch sie die kleinen knabenhaften Brüste und fuhr mit kreisenden Bewegungen über den Bauch hinunter zu dem dunkel schimmernden Dreieck. Für einen kurzen Moment hielt die Hand inne, dann setzte sie ihr Tun zärtlich fort. Ein leiser Ton durchbrach die Totenstille. Es war die Melodie eines alten Kinderliedes.
Als die Person das Haus verließ, erinnerte Elisabeth an Schneewittchen, das tot in seinem Glassarg lag. Ihr nackter Körper duftete nach Rosenöl, bläulich zeichnete sich unter der durchsichtigen Haut die feine Verästelung der Adern ab. Unter der Brust ruhten die Hände wie zum Gebet, die Haare waren aus ihrem Knoten gelöst und breiteten sich wie ein Fächer um die hellen Schultern. Wie Blutstropfen glänzten die schwarzroten Rosenblätter auf dem toten Leib. Ihr obszönes Schimmern setzte sich in dem dornigen Blütenkranz auf dem Kopf der Toten fort. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkte in seiner marmornen Wächse edler als je zuvor. Nie mehr würde sich Elisabeths schöner weißer Hals dem wollüstigen Blick eines Mannes darbieten.
Gegen siebzehn Uhr hatte Mandy Eichberg erreicht. Die Fahrt durch die hügelige, herbstlich trübe Landschaft und die vielen kleinen Dörfer, die durch dunkle Waldstücke voneinander getrennt waren, hatte sich fast endlos hingezogen. Die ganze Gegend wirkte verlassen, und Eichberg sah aus, als wäre die Zeit vor fünfzig Jahren stehengeblieben. Bucklige Häuser säumten dicht aneinandergedrängt die Hauptstraße. An ihren Fassaden bröckelte der braune Kalkputz und hinterließ freie Stellen, die wie Wunden im Mauerwerk klafften.
Es war eine düstere, graue Welt, in die Mandy eingedrungen war. Die argwöhnischen und lauernden Blicke der Einheimischen, die vereinzelt die Straße entlanggingen, verursachten ihr ein unbehagliches Gefühl. Der Ort verströmte eine geradezu provokante Bescheidenheit, als wolle er jedem Besucher zurufen, daß es schon rechtens sei, wenn der Horizont nur bis zum Ortsschild reiche.
Mandy parkte ihr Auto vor einer Pension und fragte nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Die Wirtin, eine Frau von Mitte Fünfzig, erwies sich als leutselig, aber penetrant neugierig. Ihre kleinen braunen Augen funkelten listig.
»Sind Se auf der Durchreise, oder wollen Se jemand besuchen?« fragte sie im breitesten Rhöner Fränkisch, nachdem sie Mandys Personalien aufgenommen hatte.
»Weder noch«, sagte Mandy amüsiert. »Ich bin beruflich hier.«
Mit dieser vagen Antwort gab die Frau sich nicht zufrieden. »So, beruflich sind Se da. Ja, was mache Se denn so?«
»Ich schreibe«, antwortete Mandy lakonisch.
»Aha. Wohl für die Naturschützer? Ja, ja, da waren scho öfter welche da. Das Fernsehen übrigens auch. Wissen Se, die Rhön is ja auch eine einmalige Gegend. Wie ein Zauberwald, sag ich immer. Manchmal ein bißle unheimlich, aber wirklich schön. Daß alles aus Vulkanen entstanden is, is Ihnen aber scho bekannt?« Die Wirtin wackelte in übertriebener Wichtigkeit mit dem Kopf.
»Nein, das wußte ich nicht. Aber es trifft sich gut, daß Sie Erfahrung mit dem Fernsehen haben. Ich arbeite nämlich für eine Filmproduktion in München. Allerdings geht es bei uns nicht um Naturschutz, sondern um Menschen.«
»Doch ned um jemand aus Eichberg?« Die Frau beugte sich noch weiter vor, bis ihre spitze Nase fast in Mandys Gesicht stieß.
»Der Mann, um den es geht, lebt aber schon sehr lange nicht mehr hier. Allerdings wurde er hier geboren. Vielleicht kennen Sie ihn ja noch …«
»Wer isses denn?« fiel ihr die Zimmervermieterin ins Wort.
»Er heißt Richard Grasser«, entgegnete Mandy knapp und wartete gespannt auf die Reaktion der Frau.
Diese verstummte augenblicklich, als hätte man das Kabel einer Kreissäge aus der Steckdose gezogen. Wie eine Schildkröte zog sie den Kopf zwischen die Schultern, und der listige Ausdruck ihrer Augen wich einer flackernden Unruhe.
»Richard Grasser. Nä, nie von dem gehört.«
Bingo, dachte Mandy, die das nervöse Gebaren der Frau genau beobachtet hatte. Die Wirtin
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