Dornroeschenmord
Tür einer eleganten Altbauwohnung in Haidhausen. »Elisabeth Heller, Innenarchitektin«, stand in Goldbuchstaben auf einem weißlackierten Schild. Eine Frau von Mitte Dreißig öffnete mit versiertem Lächeln die Tür.
Höflich streckte der Besuch ihr die Hand entgegen.
»Schön, Elisabeth, daß du so kurzfristig Zeit für mich hast.«
»Aber ich bitte dich, für dich doch immer. Komm rein.« Elisabeth trat ein Stück zur Seite und ließ ihren Gast in die Wohnung.
»Sehr schön hast du es hier, du hast wirklich Geschmack. Ich denke, ich bin bei dir an der richtigen Adresse.« Die Person sah sich wohlwollend in der erlesen möblierten Diele um, doch ihre gepreßte Stimme stand in eigenartigem Gegensatz zu den freundlichen Worten.
Die Innenarchitektin ging voran ins Wohnzimmer und ließ sich in einem ihrer hellroten Chelini-Sessel nieder. Ihr weißer Rock betonte die langen schlanken Beine, die sie jetzt lässig übereinanderschlug. »Bitte, setz dich doch«, sagte sie und deutete mit ihrer schmalen Hand auf das Pendant gegenüber. »Ach, fast hätte ich es vergessen. Möchtest du etwas trinken?«
»Gern«, sagte ihr Gast und steckte sich eine Zigarette an. »Einen Cognac, bitte.«
»Immer noch dieselbe Lieblingsmarke?« Elisabeth erhob sich und ging zu einem zierlichen chromblitzenden Getränkewagen. Aus einer Kristallkaraffe schenkte sie die goldene Flüssigkeit in die bauchigen Riedel-Gläser.
»Ich bin wirklich erstaunt, Elisabeth. Wenn ich mich so an dich erinnere, damals, als du noch Schauspielschülerin warst … Immer in viel zu großen Pullovern und ausgewaschenen Jeans.«
»Ach, damals«, sagte die dunkelhaarige Frau und lachte. »Mädchenträume. Ich glaube, mein Talent hätte nicht ausgereicht, um wirklich eine große Karriere auf der Bühne zu machen. Dieses Theater«, sie machte ein ausladende Geste in den perfekt gestylten Raum hinein, »liegt mir mehr.«
»Der Meinung bin ich auch.« Ein anerkennender Blick wanderte von dem Jakob-Weidmann-Bild über das Regency-Sideboard zu den Designervorhängen und blieb an der hochgewachsenen Gestalt von Elisabeth Heller hängen. Mit den ausdruckslosen Augen einer Muräne taxierte die Person das feingeschnittene Gesicht der jungen Frau, um schließlich auf dem schlanken Hals zu verharren, dessen Biegung nur dafür geschaffen schien, sich den Blicken eines Mannes wollüstig entgegenzuwölben. Dann riß sie sich von ihrem Anblick los und griff nach dem Cognacglas.
»Man liest in sämtlichen Architekturzeitschriften von dir. Du hast dir als Innenarchitektin wirklich einen Namen gemacht.« Die Person setzte das Glas sorgsam wieder ab, ohne davon getrunken zu haben.
»Du bist doch bestimmt nicht gekommen, um mein Loblied zu singen. Was kann ich denn nun wirklich für dich tun?« Elisabeth lächelte zuvorkommend.
»Ich habe es ja schon am Telefon angedeutet. Ich möchte mich neu einrichten und würde dabei gerne deine Hilfe beanspruchen. Weißt du, ich möchte etwas ganz Neues, etwas, das mit der Vergangenheit völlig abschließt. Hier sind schon mal die Pläne.« Elisabeths Gast öffnete den mitgebrachten Aktenkoffer und reichte ihr eine Papierrolle. Dabei stieß er gegen das Cognacglas und verschüttete die Flüssigkeit auf seiner hellen Leinenhose.
»Oh, wie ungeschickt von mir. Kann ich das eben in deinem Badezimmer auswaschen? Die Flecken gehen sonst nie mehr raus.«
Das Beruhigungsmittel schien zu wirken. In einem unbeobachteten Moment hatte die Person ihrer Gastgeberin das Pulver in den Cognac gegeben. Jetzt saß die Innenarchitektin zusammengesunken über dem ausgebreiteten Wohnungsplan. Lautlos trat die Person von hinten an sie heran. Ihr Blick fixierte den Nacken, dessen feine Linien durch die hochgesteckten Haare noch besser zur Geltung kamen. Eine Locke ringelte sich unschuldig in der weichen Mulde zwischen Hals und Schulter.
Zwischen den behandschuhten Fingern blitzte ein dünner Gegenstand. Mehr erstaunt als erschrocken erwachte Elisabeth noch einmal aus ihrer Apathie, ehe sie den stechenden Schmerz in ihrem Genick spürte. Das Blut schien aus ihrem Körper zu weichen, und ihr Herz stand überraschenderweise still. Mit Verwunderung spürte sie deutlich ein letztes Zucken. Dann war alles vorbei.
Mit leichten Schritten ging die Person zum Fenster und öffnete die Flügel weit. Das Gefühl der Erlösung war unvorstellbar. Regenkalte Luft strömte herein, und ein Windstoß fuhr unter das weiße Kleid, das über einem Bügel am Schrank hing.
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