Dornroeschenmord
Im Alter von neunzehn Jahren.
Mandy stutzte. Was war nach dem frühen Tod der Mutter aus Grasser geworden? Einen Vater, der sich um ihn hätte kümmern können, hatte es ja nicht gegeben. Von der Beamtin, die mit einem weiteren Ordner auf sie zukam, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen:
»Ich hab da noch was zur Frau Grasser gefunden. Wenn Sie davon eine Kopie wollen, kostet Sie das allerdings noch mal fünfundzwanzig Mark.«
»Kein Problem«, sagte Mandy ungeduldig und zog ihr Portemonnaie aus der Tasche.
»Einen Moment, so schnell geht das nicht. Da müssen Sie noch ein Formular ausfüllen und die Quittung unterschreiben. Dann können Sie sich die Unterlagen anschauen.«
Mandy zahlte, unterschrieb und erhielt schließlich das Dokument. Es war die polizeiliche Ummeldung des kleinen Richard Grasser, den man nach dem Tod seiner Mutter in ein Waisenhaus in einem Ort namens Willmers gebracht hatte. Mandy erkundigte sich nach dem Weg. Willmers lag nur zehn Kilometer entfernt.
Als sie wieder auf die Straße trat, war das Dorf plötzlich in undurchdringlichen Nebel gehüllt. Wie ein Gespenst hielt der weiße Dunst das Dorf in seinen klammen Fängen. Es war, als sei der Rest der Welt in der grauen Stille verlorengegangen. Mandy stieg in ihr Auto. Wie durch eine Wand aus zäher Watte drangen Geräusche an ihr Ohr, und nur mit Mühe konnte sie die Straßenschilder entziffern.
Hinter Eichberg war der Nebel noch dichter, und Mandy konnte nicht einmal die Markierungsstreifen auf der Straße erkennen. Während sie ihren Wagen mit größter Vorsicht lenkte, tauchten am Wegesrand die Umrisse der Bäume in gespenstischer Einsamkeit auf. Die gewundenen, von Blättern entblößten Äste erschienen ihr wie menschliche Arme, die sich in unerträglichen Qualen verdrehten.
Verärgert über ihre eigene Phantasie schüttelte Mandy den Kopf und richtete ihren Blick stur auf die Straße. Der Nebel wurde immer dichter und drang in das Innere des Wagens. Heißer Dampf breitete sich aus, bis sie zu husten begann. An der Innenseite der Frontscheibe lief Wasser in kleinen Rinnsalen herunter.
Mandy hielt am rechten Straßenrand und stieg aus. Verunsichert öffnete sie die Motorhaube, und eine heiße Dampfwolke zischte ihr entgegen. Das Kühlerwasser war nicht in den Motorbereich verdunstet, sondern ins Wageninnere. So konnte sie auf keinen Fall weiterfahren.
Mißmutig entschloß sie sich, zum Dorf zurückzugehen und Hilfe zu holen. Sie war ein paar Schritte gegangen, als sie plötzlich das Schnurren eines Motors hörte, das immer lauter wurde. Dann verstummte es, und eine Tür klappte. Schritte näherten sich.
»Grüß Gott, Frau Maltzan«, sagte eine Stimme, und Mandy blieb fast das Herz stehen. Dann sah sie, wer es war: der alte Mann mit den hellen Augen und dem schütteren, grauen Haar aus der Schafkopfrunde. Erleichtert streckte sie ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn überschwenglich.
»Bin ich froh, Sie zu sehen, Herr …«
»Gebauer, Walter Gebauer.«
Fachmännisch untersuchte er das Auto. »Tja, Glück im Spiel, Pech mit dem Auto. Sieht so aus, als wär der Wärmetauscher kaputt. Ich werd Se wohl abschleppen müssen.«
Den hat mir der Himmel geschickt, dachte Mandy und bezog den Gedanken nicht nur auf ihr defektes Auto.
»Na, allzuviel Glück hatte ich gestern abend auch nicht«, meinte sie, während sie ihm half, das Abschleppseil anzubringen. »Schließlich bin ich ja nicht zum Schafkopfspielen hergefahren, sondern um mit meinen Recherchen zu Richard Grasser weiterzukommen.« Sie hatte es kaum ausgesprochen, als das Gesicht des alten Mannes erneut die abweisende Starre vom Tag zuvor annahm. Diesmal ließ Mandy sich nicht beirren.
»Herr Gebauer«, sagte sie eindringlich, »ich habe Sie gestern genau beobachtet, und ich weiß, daß Sie etwas verbergen. Ich konnte es Ihnen ansehen. Und das kann ich auch jetzt. Ich habe das Gefühl, daß Ihnen das Thema Richard Grasser sehr wohl etwas bedeutet. Wollen Sie nicht doch darüber reden? Es braucht ja niemand von unserem Gespräch zu erfahren.«
In dem Gesicht des alten Mannes arbeitete es. »Ich fahr Se jetzt zum Schorsch in die Werkstatt. Der macht Ihnen den Wagen in Null Komma nix wieder flott.«
»Und in der Zwischenzeit lade ich Sie zu einem Kaffee ein, und wir unterhalten uns, ja?« Gebauer blickte in Mandys große dunkelblaue Augen, die ihn erwartungsvoll ansahen. Er zögerte.
Kurz entschlossen hakte Mandy ihn unter und bugsierte ihn zu seinem Auto. »In Ordnung«,
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